Angela Merkel – mit dem «grossen Gott» in den Ruhestand
In der Regel sind die Musikstücke, die sich scheidende Staatsoberhäupter von den Musikern der Bundeswehr wünschen, erst einmal geheim. Angela Merkels Liedauswahl war bereits im Vorfeld bekannt und wurde fleissig kommentiert. Die meisten Erwähnungen fanden die beiden Schlager bzw. Chansons – ab und zu wurde auch «Grosser Gott, wir loben dich» erwähnt. Zusammen sind die Stücke in gewisser Weise typisch für Merkel.
Ein Abschied ohne Tränen
Als Gerhard Schröder 2005 als Bundeskanzler mit denselben Ehren verabschiedet wurde, standen ihm bei Frank Sinatras «I did it my way» Tränen in den Augen. Angela Merkel blieb am 2. Dezember gewohnt sachlich. Sie bedankte sich, wies auf die immer noch herausfordernde Pandemiesituation hin und auf die Stärke, aber auch auf die Verletzlichkeit der Demokratie. «Die 16 Jahre als Bundeskanzlerin waren ereignisreiche und oft sehr herausfordernde Jahre. Sie haben mich politisch und menschlich gefordert, und zugleich haben sie mich immer auch erfüllt.» Ihrem Nachfolger Olaf Scholz (63) wünschte sie alles Gute, eine glückliche Hand und viel Erfolg: «Ich bin überzeugt, dass wir die Zukunft auch weiterhin dann gut gestalten können, wenn wir uns nicht mit Missmut, mit Pessimismus, sondern, wie ich vor drei Jahren in einem anderen Rahmen gesagt habe, mit Fröhlichkeit im Herzen an die Arbeit machen.» (Der vollständige Redetext ist hier zu finden.)
Lieber Symbole als zu viele Worte
Angela Merkel war keine Kanzlerin der grossen Emotionen. Sich selbst, ihre Gefühlslage und ihr Privatleben hielt sie weitestgehend aus der Politik heraus. Aber natürlich fand sie Möglichkeiten auszudrücken, was sie empfand, nicht zuletzt über Symbole. Das war bei ihrer Verabschiedung nicht anders – und ihre ausgewählten Lieder zeigen eine sehr menschliche Kanzlerin.
«Du hast den Farbfilm vergessen» ist ein Klassiker der Punksängerin Nina Hagen von 1974. Damals studierte Merkel noch Physik. Der freche und unangepasste Song war wohl die grösste Überraschung von Merkels Liedauswahl, aber er zeigt ihren eigenen Kopf und nicht zuletzt ihr Streben nach Unabhängigkeit in der kontrollierten Umgebung der DDR. Auch für das folgende Stück musste sich das Musikkorps der Bundeswehr die Noten erst besorgen: «Für mich soll's rote Rosen regnen» von Hildegard Knef gehört zu deren bekanntesten Chansons. Neben einer Frau aus dem Osten kam damit eine aus dem Westen zu Wort. Und wieder eine, die alle Versuche sprengt, sie in eine Schublade zu pressen. «Ich will alles oder nichts» singt die Knef, die «grösste Sängerin ohne Stimme». In einem sehr persönlichen Gespräch mit Chimamanda Ngozi Adichie im September outete sich die scheidende Bundeskanzlerin als Feministin. Den Begriff hatte sie bis dahin immer vermieden. Aber sie sei durchaus eine Frau, die gelernt habe, sich «in einem männlich dominierten Umfeld ihren Platz zu erkämpfen».
«Grosser Gott, wir loben dich» zum Abschluss
Das abschliessende Musikstück setzte noch einmal einen anderen Akzent: «Grosser Gott, wir loben dich». Das ökumenische Kirchenlied von 1771 ist mehr als eine Reminiszenz an Merkels Kindheit in einem Pfarrhaushalt. Inmitten des Klimawandels spricht es von «Himmel, Erde, Luft und Meere», die Gott gehören. Inmitten der Unsicherheiten durch Corona spricht es von Zuversicht: «Auf dich hoffen wir allein; lass uns nicht verloren sein.» Und immer wieder hat es die staunende Anbetung Gottes zum Thema: «Grosser Gott, wir loben dich; Herr, wir preisen deine Stärke. Vor dir neigt die Erde sich und bewundert deine Werke.»
Angela Merkel als Mensch und Kanzlerin lässt sich nicht auf diese drei Lieder reduzieren, aber zusammen zeigen sie das freundliche Bild einer Frau, die ihre Macht immer auch als Verantwortung vor Gott begriff. Danke, Frau Merkel.
Die komplette Zeremonie inklusive Rede der scheidenden Kanzlerin:
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Datum: 03.12.2021
Autor: Hauke Burgarth
Quelle: Livenet