«Ware Mensch», ein Buch über moderne Sklaverei
Sinatra war zehn Jahre alt, als sie von der «International Justice Mission» (IJM) in Indien aus Schuldsklaverei befreit wurde. Ihre Eltern arbeiteten in der Fabrik. Sie arbeitete in der Fabrik. Es gab für sie kein Leben ausserhalb der Fabrik. Doch jetzt war sie frei. In der Erstversorgung für Familien, die der Sklaverei entkommen waren, hielt sie zum ersten Mal Buntstifte in der Hand. Sie konnte mit einem Hammer umgehen wie ein Zimmermann, aber Buntstifte waren ihr neu. Trotzdem malte sie ein Strichmännchen, das die danach stolz in die Kamera hielt (siehe Titelbild).
Dietmar Roller hält fest: «Für mich ist ihr Bild das schönste aller Kunstwerke, denn es ist made by Sinatra und made in freedom. Endlich konnte Sinatra wieder Kind sein. Gleichzeitig bestätigt dieses Bild: Eine Welt ohne Sklaverei ist möglich. Und diese Welt ist keine Utopie, sondern eine Vision, die ich mit Millionen Menschen auf der ganzen Welt teile.»
Ware Mensch
Um solche verkauften Menschen geht es im Buch, das Dietmar Roller als Leiter der IJM Deutschland zusammen mit seiner Kommunikationsleiterin Judith Stein herausgegeben hat: «Ware Mensch. Die vielen Gesichter moderner Sklaverei. Wie wir sie durchschauen und stoppen können». Aber was hat dieses Thema mit uns zu tun?
Stella und Markus sind schon eine Weile ein Paar. Jetzt wollen sie heiraten. Die kirchliche Trauung ist bereits festgelegt. Nun gehen sie noch zum Juwelier vor Ort, um sich nach Ringen umzusehen. Sofort werden sie fündig und ahnen nicht, dass sie sich durch den Kauf schuldig machen – denn knapp 10'000 Kilometer entfernt arbeitet der achtjährige Baakir im tansanischen Mguzu jeden Tag vierzehn Stunden lang unter Lebensgefahr, um das dafür nötige Gold zu finden.
Darf man das so sagen?
Dietmar Roller und Judith Stein sagen es so. Sie nennen das anpassungsfähige Chamäleon der Weltwirtschaft, das sich vor jedem denkbaren Hintergrund versteckt, beim Namen: Sklaverei. Roller betont: «Das ist keine leichte Kost! Doch ich würde dieses Buch nicht schreiben, wenn ich keine robuste Hoffnung hätte, die aus der Kraft der vielen Menschen kommt, denen ich begegnet bin, und die Elend und Armut nicht hinnehmen wollen.»
Ein gefährliches Buch
Dieses Buch ist extrem gefährlich, denn mit ihm bekommen Armut und Elend ein Gesicht. Zum Beispiel das der zehnjährigen Amelie, die seit Jahren als Restavek bei ihrer haitianischen «Madame» lebt, und für die Arbeit und Vergewaltigung normal geworden sind. Wie 400'000 Mädchen in Haiti lebt Amelie in einem Verhältnis, das sich beim besten Willen nicht mehr als Arbeitsverhältnis darstellen lässt: Sie ist eine Sklavin.
Tatsächlich lässt sich das Phänomen der Sklaverei nicht auf das Konstrukt beschränken, das Anfang des 19. Jahrhunderts offiziell abgeschafft wurde. Der transatlantische Verkauf von Schwarzafrikanern wurde tatsächlich eingeschränkt, doch Prof. Michael Zeuske hält fest: «Sklaverei bedeutet Gewalt von Menschen über den Körper anderer Menschen.» Damit ist Amelie eine Sklavin. So wie 40 Millionen Menschen weltweit – mehr als viermal so viel wie die Schweiz Einwohner hat.
Willkommen in der Nachbarschaft
Nun ist Haiti weit entfernt – auch wenn viele Europäer im Nachbarstaat Dominikanische Republik gerne Urlaub machen –, doch sklavereiähnliche Bedingungen ziehen sich bis hin nach Europa: Das beginnt mit rumänischen Mädchen, die als Prostituierte in den Westen verkauft werden, geht weiter mit Arbeitern für Schlachthöfe und hört mit Kindern, die von Leihmüttern in Europa zur Verfügung gestellt werden, noch lange nicht auf. Roller zitiert hier Tina Dietz, die als Traumatherapeutin betont: «Je früher ein Kind traumatisiert wird und belastenden Lebensereignissen ausgesetzt ist, desto schlimmer sind die Folgen.»
Roller weiss, dass dieses Engagement Irritationen verursacht. Zu Beginn seiner Arbeit bei der IJM erreichte ihn eine dringliche Bitte per Mail: «Stoppen Sie das… Viele Existenzen wurden vernichtet bei dem ominösen Versuch, Kindern zu helfen.» Der Absender war – wie der Autor später herausfand – ein pädophiles Netzwerk. Tatsache ist: Sklaverei und Abhängigkeit befinden sich weder in grauer Vergangenheit noch in fernen Teilen der Welt. Es gibt sie hier und jetzt bei uns.
Veränderung ist möglich
Der grösste Gewinn für alle Beteiligten wäre der Eindruck, dass sich an dieser Situation nichts ändern liesse. Das ist falsch! Als einzelner Konsument oder einzelne Konsumentin lässt sich tatsächlich nicht viel bewegen. Es ist schwer zu beurteilen, ob das eigene T-Shirt wirklich fair oder unter unwürdigen Bedingungen produziert wurde. Doch Roller nennt im Buch drei Elemente, die nachhaltig weiterwirken:
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Veränderung im Strafrecht,
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eine bessere Ausbildung und höhere Personaldecke bei der Polizei und
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die Sensibilisierung von Tech-Firmen für verbreitete Inhalte.
Ist das zu gross? Vielleicht. Doch auch Richter, Polizisten und Firmeninhaber haben Kinder – und sie möchten nicht, dass ihnen etwas geschieht. Wahrscheinlich hilft dieser Blick in die Nachbarschaft sogar dabei, Kindersoldaten in Gulu/Uganda einzuordnen und die Sammler von Elektroschrott im Kongo.
Dietmar Roller ist Christ. Die aktuelle Lage der Welt macht ihm mehr als nur ein bisschen Mühe. Aber er engagiert sich weiter für Veränderung: «Wie kann Sklaverei beendet werden? Die Antwort lässt sich kurz zusammenfassen. Es gäbe keine Sklaverei mehr, wenn Menschen in Armut sicher wären. Wenn sie Zugang zu ihren Rechten hätten und sich auf die Polizei und Justiz in ihrem Land verlassen könnten.» Momentan gilt für die Hälfte der Menschheit eine andere Realität. Doch das muss nicht das Ende sein. Sinatra und viele andere zeigen, dass sowohl ein Ausstieg als auch ein Neuanfang möglich sind. Und dass Gott bis heute Menschen so sehr liebt, dass er alles für sie geben würde. Alles.
Zum Buch:
Dietmar Roller
mit Judith Stein: Ware Mensch. Die vielen Gesichter moderner Sklaverei. Wie wir
sie durchschauen und stoppen können, adeo, 224 Seiten, gebunden, ISBN 978-3-86334-355-2,
SFr 34x,90 / Euro 22,00.
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Datum: 17.10.2022
Autor: Hauke Burgarth
Quelle: Livenet