Friedliche Weihnachten mitten im Krieg
Wie viele der heutigen Ereignisse stecken in ihrem neuen Roman «Ein Leben für den Feind», der im Ersten Weltkrieg spielt?
Iris Muhl: Ich erzähle eine Geschichte aus der Perspektive eines jungen Mannes, der 1914 eigentlich etwas ganz anderes vorhat, als für sein Land an der Front zu kämpfen. Von daher gibt es wohl etliche Parallelen zur Gegenwart. Auch heute, 110 Jahre später, kämpfen junge Männer und Frauen in diesem Alter in der Ukraine und in Israel für ihr Land. Sie haben heute modernere Waffen, aber die Menschen brauchen denselben Mut und haben dieselbe Furcht. Abgesehen von der Jahreszahl ist und bleibt ein Krieg brutal und unmenschlich.
Wie viel Fantasie braucht man als Autor, um Schrecken eines Krieges aufzuschreiben?
Ich habe intensiv recherchiert und neben Sachbüchern über den Ersten Weltkrieg auch Tagebücher von Soldaten gelesen. Soldaten hatten an der Front immer wieder Wartezeiten, in denen sie in ihr Tagebuch geschrieben oder Briefe verfasst haben. Besonders die Tagebücher waren für mich sehr interessant, weil ich in den Texten die Gemütsverfassung der Soldaten herauslesen konnte. Beim Lesen konnte ich die zunehmende Gefühlskälte, die Verzweiflung oder aber eine gewisse Freude spüren, die die Soldaten zum Beispiel an Heiligabend empfanden. Es braucht vor allen Dingen ein Gefühl für das Erzählen, psychologische Kenntnisse, weil meine Protagonisten glaubhaft sein sollten, und eine gute Beobachtungsgabe. Denn wenn ich weiss, wie Menschen sich verhalten und handeln, dann kann ich auch von ihnen erzählen. Die Ideen aber kommen meist zu mir, nicht ich zu ihnen.
Was haben Sie bei Ihrer Recherche selbst über Krieg und seine Entstehung gelernt?
Gelernt habe ich vor allem etwas über das menschliche Verhalten im Krieg. Die meisten Bücher, die ich während meiner Recherchen gelesen habe, haben mir auch stark zugesetzt. Mit am wichtigsten war für mich allerdings, dass verfeindete Soldaten in den Schützengräben den Willen hatten, sich während der Kämpfe regelmässig auszutauschen. Letztendlich hatten sie den Mut, an Heiligabend den Feind als Freund zu sehen: ein unerlaubter Gemeinsinn, wenn man das so sagen darf. Und aus diesem Gemeinsinn entstand spontan diese kleine Weihnachtsfeier. Das fand ich sehr spannend und zugleich berührend. Für mich persönlich war es die Entdeckung des menschlichen Subtextes in einem schrecklichen Krieg.
War das für Sie logisch, mit welcher Begeisterung Menschen 1914 in den Krieg gezogen sind?
Die Kriegsbegeisterung gab es ja hauptsächlich bei Studenten und Bildungsbürgern. Arbeiterschaft und Bauern haben das Szenario kritischer gesehen. Sie fürchteten sich vor dem Krieg und vor dem langen Arbeitsausfall. Sie waren mit den Fragen beschäftigt, ob sie ihre Arbeitsstelle behalten konnten, was aus ihrer Familie wurde und wer die Felder bestellen sollte.
Wie viel Mut braucht es, um für ein wenig Frieden zu kämpfen?
Diese Frage hat mich regelmässig beschäftigt. Es braucht immer Mut, für Frieden und für Menschen einzustehen. Als Christen sind wir aufgerufen, den Frieden zu leben, Konflikte gut zu lösen oder gar nicht erst aufkommen zu lassen. Doch wo beginnt Frieden überhaupt? Ich denke, er beginnt in einer gerechten Gesellschaft. Der Schweizer Friedensforscher und Wirtschaftsprofessor Dominic Rohner meint dazu, dass ein Mitspracherecht, Arbeit und Sicherheit für Frieden und Stabilität in einem Land sorgen. In vielen Ländern der Welt ist das leider noch nicht der Fall.
In einer Passage des Buches heisst es, Dankbarkeit sei die Nahrung für die Seele und das Überlebenselixier für schlechte Zeiten. Fehlt der heutigen Gesellschaft die Dankbarkeit?
Dankbarkeit macht aus einer einfachen Mahlzeit ein Festmahl, aus einem Haus ein Zuhause, verwandelt einen Fremden in einen Freund, schreibt eine amerikanische Schriftstellerin. Die Dankbarkeit gibt mir eine hoffnungsvolle Haltung. Ich kann mich immer über etwas oder auf etwas freuen. Unterschlägt man sie, entgeht einem das Wesentliche im Leben.
In Ihrem Buch spielt auch ein Pfarrer eine wichtige Rolle. Was wünschen Sie sich von Christen mit Blick auf den Krieg?
Ich wünsche mir eine klare Haltung der Kirche, Widerstand, wenn nötig, und echte Barmherzigkeit. Im Krieg, aber auch abseits des Krieges wünsche ich mir, dass die Kirche ihren diakonischen Auftrag niemals vergisst und den Menschen jederzeit helfend zur Seite steht.
Eine Protagonistin des Buches betete jeden Tag für ihren Sohn, obwohl es ihr selbst nicht so gut ging. Unterschätzen Christen die Kraft des Gebets?
Gebet ist für mich nächste Nähe zu Gott, tröstlich und hoffnungsvoll. Die Gegenwart Gottes ist voller Schönheit und Sanftmut. Ich habe in meinem Leben über 30 Jahre gebetet und habe kürzlich den Schatz meiner Gebete entdeckt. Ich war überrascht, wie viele Gebete in meinem Leben als Mutter von drei Söhnen und als Ehefrau, die seit 34 Jahren verheiratet ist, erhört wurden. Kürzlich habe ich einem befreundeten Schriftsteller, der an Krebs erkrankte, geschrieben, dass ich für ihn beten werde. Er ist Atheist, aber er war sehr dankbar und gerührt über meine Nachricht.
Dürfen wir jemals aufhören, über den Krieg zu erzählen?
Hannah Arendt hat im Blick auf den Krieg vom „Fluch der Gleichgültigkeit“ gesprochen. Dieser Gleichgültigkeit sollten wir niemals verfallen. Die Kriegswunden sollen heilen, aber die Narben müssen sichtbar bleiben. Wir brauchen die Erinnerung an den Krieg, um in Zukunft besser zu handeln.
Welche wichtigen Erkenntnisse nehmen Sie, für sich und die Gesellschaft, aus dem Projekt mit?
Menschliche Beziehungen, Netzwerke und gute Sprachkenntnisse sind stärker als morastige Landesgrenzen. Krieg ist weit komplexer und schwerer nachvollziehbar, als ich mir das als neutrale Schweizerin vorgestellt hatte. Und: Definitiv früher mit dem Schreiben beginnen!
Dieser Artikel erschien im PRO Medienmagazin.
Zum Buch:
Ein Lied für den Feind
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