Kirche als Ort der Annahme und Heilung
Scheitern gehört zum Leben dazu. Das Ausmass mag unterschiedlich sein, doch wir alle machen Erfahrungen damit. So ging es auch Rahel Thommen (32) aus Gamsen bei Brig, als sie auf einmal mit einer grossen Erschöpfung kämpfen musste.
Sie verlor die Kontrolle über ihren Körper
2016: Neben Theologiestudium und zwei Jobs war Rahel auch ehrenamtlich aktiv. Doch dann schlitterte sie trotz Reduktion des Pensums in eine depressive Erschöpfungsphase. Simple Entscheidungen zu treffen war anstrengend, sie litt unter heftiger Migräne und fand oft den dringend benötigten Schlaf nicht. Häufig musste sie das Frühstück nach kurzer Zeit wieder erbrechen.
Der Kontrollverlust über den eigenen Körper war für sie eine Grenzerfahrung. Zum ganz grossen Zusammenbruch kam es glücklicherweise nicht. «Mein ehrenamtliches Engagement als Jungscharhauptleiterin und einen meiner Jobs musste ich abgeben.» Daneben funktionierte sie irgendwie weiter.
Geplagt von Unsicherheit
«Ich hatte das Gefühl, als würde ich nie mehr Lebensfreude empfinden können. Mein Leben schien vorbei zu sein.» Eine Vertrauensperson empfahl Rahel eine Ärztin. «Von ihr fühlte ich mich verstanden. Anfänglich versuchten wir es ohne medikamentöse Behandlung. Nach circa zwei Monaten verschrieb sie mir dann doch etwas.» Das half ihr und nach ein paar Monaten konnte sie die Medikamente wieder absetzen. Doch die Erfahrung des Scheiterns erschütterte Rahels Welt- und Selbstbild tief.
Die folgenden Jahre kämpfte Rahel mit dem Verlust ihres Selbstvertrauens. Während ihrer Arbeit als Lehrerin zweifelte sie oft an ihrer Wahrnehmung. «Unterrichtsstörungen irritierten mich viel stärker als früher. Ich reagierte sensibler und war unsicher, ob ich intervenieren sollte. Ich gab mein Bestes, doch die Zweifel blieben: Mache ich es gut genug?»
Dieser Zustand sollte sie noch lange begleiten. «Es dauerte etwa fünf Jahre, bis ich mein altes Selbstbewusstsein wiedergefunden hatte.»
Getragen von einem barmherzigen Gott
«Ich weiss nicht, was ich ohne meinen Glauben an den barmherzigen Gott gemacht hätte», erzählt Rahel. «Ich bat Gott täglich, mir die nötige Kraft für den bevorstehenden Tag zu geben.» Gott die Kontrolle abzugeben war für sie ein Schlüssel. «Ich kann und muss nicht alles im Griff haben». Heute glaubt sie, dass sie, trotz ihres unterstützenden Umfelds Gott brauchte, der sie durch die dunkelsten Stunden hindurchtrug.
Scheitern wird zum Thema
Aufgrund der eigenen Erfahrung, wie auch der Geschichte anderer, beschäftigte sich Rahel vermehrt mit dem Thema des Scheiterns. Schliesslich schrieb sie im Rahmen ihres Theologiestudiums eine entsprechende Diplomarbeit. «Die Bibel schildert uns Gott, der mit uns durch das Scheitern hindurchgeht, der uns treu zur Seite steht. Er nimmt voller Barmherzigkeit Anteil, ohne dabei Schuld zu übergehen. Dies ermöglicht es, sich Gott zu öffnen und mit ihm das eigene Scheitern mit allen involvierten Gefühlen anzuschauen. Beim Lesen der Klagepsalmen sehen wir, dass Gott es auch erträgt, wenn wir unsere Gefühle ihm gegenüber ungefiltert ausdrücken.»
Die Kirche als Ort der Hoffnung und Heilung
In europäischen Ländern ist der Kompass auf Erfolg geeicht. Gescheiterte finden wenig Verständnis. Aber: «Man kann einen Menschen nicht aufgrund seiner momentanen Situation verstehen, sondern muss seine Lebensgeschichte kennen. Ein Mensch ist nie ein Gescheiterter, sondern höchstens jemand, der gerade eine Situation des Scheiterns durchlebt.» Das Scheitern hat verschiedene Facetten. «Es kann selbst oder auch von Umständen oder anderen Personen verschuldet sein. Oft ist es ein Mix.»
Scheitern wird anhand herrschender Werte beurteilt. Im kirchlichen Umfeld orientieren sich diese stark an moralischem Verhalten. «Wenn du in der Ehe gescheitert bist, giltst du oft nur noch als Christ zweiter Klasse. Christen, die einen treuen und barmherzigen Gott predigen, aber gleichzeitig Leute aufgrund ihres Scheiterns meiden, empfinde ich als widersprüchlich.»
«Der eigene Zerbruch machte mich extrem demütig.» In ihrer Krise bekam bedingungslose Annahme ganz neue Bedeutung. «In meiner Kirchgemeinde habe ich Annahme erfahren», sagt sie dankbar und wünscht sich, dass alle Menschen, in einer Situation des Scheiterns, einen solchen Ort finden. Sie ist überzeugt, dass die Kirche – trotz aller Unzulänglichkeit – ein heilsamer und hoffnungsvoller Ort sein kann.
Konkrete Schritte tun
Der Umgang mit Personen, die eine Scheiternserfahrung durchleiden, fällt den meisten Menschen schwer. Dies erlebte auch Rahel: «Obwohl ich von meiner Kirchgemeinde viel Verständnis und Anteilnahme erfuhr, waren viele der zuvor unbeschwerten Beziehungen plötzlich belastet. Mir fehlte die Kraft, auf Leute zuzugehen und viele waren verunsichert, wie sie mit mir umgehen sollen, welche Worte angebracht sind oder nicht. Die Gespräche blieben aus und so kam das Gefühl auf, am Rande der Gemeinschaft zu stehen.»
Aus dieser Erfahrung möchte Rahel lernen, auf Menschen in ihrem Umfeld, die einen Zerbruch erleben, mutiger zuzugehen. Sie möchte eigene Unsicherheit mitteilen und Anteilnahme signalisieren: «Hey, ich weiss gerade nicht, was sich sagen soll, aber ich möchte, dass du weisst, dass ich gerne nach meinen Kräften für dich da bin.» Rahel wünscht sich, dass Kirche ein Ort ist, an dem Gottes Treue und Barmherzigkeit im Scheitern erlebbar wird.
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Datum: 08.12.2022
Autor: Markus Richner-Mai
Quelle: Livenet