Warum hat Gott den Tsunami zugelassen?
Auf islam.de schreibt Aiman A. Mazyek in einem Beitrag: «Die Welt spendete dann solidarisch, weltbürgerlich grosse Summen für ihre Geschwister in einem bisher nie da gewesenen Ausmass und in einer Höhe, die ihresgleichen sucht. In den betroffenen Ländern leisteten und leisten bis heute die Überlebenden und Einheimische schier unglaubliche Hilfe bis zur völligen Erschöpfung und zum Zusammenbruch. Man leidet mit dem Mensch, ganz gleich ob 'er' sich zu den Christen, Hindus oder Muslimen zählt. Vielleicht erinnert der eine oder andere sich dann: Uns Menschen ist allen dieselbe Mutter und derselbe Vater gemein! Seltsam schaurig-schöne Vorstellungen sind dies, nicht wahr? Wir sollten sie nicht vergessen und nicht aufhören uns über die Zeichen dieser Naturkatastrophe Gedanken zu machen. All das hat Gott auch zugelassen», erinnert Aiman A. Mazyek, an die Katastrophe.
Die Frage nach dem Sinn
Die erschütternde Naturkatastrophe des vergangenen Jahres verlieh der Frage nach Gott und dem Sinn des Leidens neue Aktualität. Alle Religionen versuchten Antworten darauf zu finden. David Bentley Hart, Professor für östliche Orthodoxie an mehreren amerikanischen Universitäten, geht diesen Fragen in seinem kürzlich erschienen Buch «The Doors of the Sea: Where was God in the Tsunami?» («Die Tore des Meeres: Wo war Gott im Tsunami?») nach.
Der Autor erklärt in den ersten Seiten seines Buches, dass die unmittelbar nach dem Tsunami geäusserten Stellungnahmen, in denen man einen Sinn oder eben auch Sinnlosigkeit hinter der Flutwelle zu entdecken vermeint hatte, «in solchen Augenblicken grausam und vermessen» seien. Es sei sehr schwer, so Hart, sich über die Motive dieser Menschen, die derartige Katastrophen sofort beurteilen wollen, klar zu werden – ob sie tatsächlich von einem ehrlichen Wunsch bewegt würden, Licht auf die Ereignisse zu werfen, oder aber von einem rhetorischen Opportunismus.
Berechtigte Fragen nicht vorschnell beantworten
Viele Kommentare, die unmittelbar nach der Flutwelle vor einem Jahr geschrieben wurden, seien sehr oberflächlich gewesen, kritisiert Hart. Selbstsicher habe man damals geschrieben, wie absurd religiöse Überzeugungen doch seien, dabei allerdings vollkommen übersehen oder mutwillig übersehen wollen, welche Inhalte die verschiedenen Glaubensbekenntnisse haben. Hart schreibt, man habe damals den Eindruck gehabt, viele seien der Ansicht, die Christen hätten in den 2000 Jahren, die seit der Geburt Jesu vergangen sind, niemals auf Fragen wie die nach dem Sinn von Leid und Tod geantwortet.
Seinen Untersuchungen zufolge seien die verschiedenen Bewertungen und Leitartikel vor allem von einer materialistischen Warte aus geschrieben worden, und ein Materialist komme angesichts so offensichtlich ungerechter und leidvoller Situationen, in denen keine sichtbare moralische Ordnung erkennbar ist, zum Schluss, dass etwas Transzendentes nicht existieren könne. Für Hart ist dieser Schluss voreilig, ja er beruhe auf einem oberflächlichen Urteil. Allerdings könnten auch eine «wahre, aufrichtige Abscheu» angesichts solchen Elends sowie eine «echte Leidenschaft für die Gerechtigkeit» hinter derartigen Positionen stehen, räumt der Theologe ein. Solche Gefühle gäben ausserdem Zeugnis dafür, wie sehr das Christentum die gegenwärtige Kultur geprägt und durchdrungen habe, fügt er an.
Die christlichen Reaktionen auf die Umweltkatastrophe seien breit gefächert und spiegelten sehr unterschiedliche theologische Positionen wider, erklärt der Theologe in seinem Buch. Allen gemein sei aber das Bestreben zu glauben, dass sich hinter der scheinbaren Wahllosigkeit und Grausamkeit des gewaltigen Naturgeschehens eine Art göttlicher Plan verberge, der in schmerz- und leidvollen Situationen Sinn verleihen könne. Aber ihn in einer derartigen Situation tatsächlich zu finden, sei alles andere als einfach.
Die christliche Antwort
Die christliche Sicht gehe davon aus, dass es eine transzendente Vorsehung gibt und dass Gott selbst aus den dunklen Kapiteln der Geschichte Gutes hervorbringen und verwirklichen wird. Man müsse jedoch den Fehler vermeiden zu behaupten, dass jeder begrenzte Akt für sich genommen ausschliesslich auf die Wirkung eines einzigen Willens zurückzuführen sei, denn das bedeute, die Existenz der menschlichen Freiheit zu verleugnen. Gott dürfe man nicht zu einem blossen Vollstrecker seines eigenen Willens degradieren, warnt Hart. Gott zwinge seinen Willen keinem Menschen auf, weder durch die Verursachung von «schönen» Augenblicken noch durch die Verursachung von Katastrophe, Leid und Schmerz.
Eine andere Reaktion bestehe darin, in Leiden und Tod eine Art Strafe für menschliche Sünde zu sehen. Eine Strafe, die ausgeteilt werde, um gewissermassen den Kontostand auszugleichen. Diesbezüglich gibt der Autor zu Bedenken, dass Christus selbst die Vorstellung, dass Unglück und Schuld in einem streng proportionalen Verhältnis zueinander stehen, ausgeschlossen habe.
Bevor er seine eigene Antwort auf die Frage nach dem Sinn von Leid und Schmerz gibt, wendet sich Hart der Frage zu, was unter «Natur» beziehungsweise unter «natürlicher Welt» verstanden wird. Unter «Natur» verstehe man im Allgemeinen etwas Neutrales und Materielles. Diejenigen, die das nicht täten, seien diejenigen, die sich zum Heidentum bekennen. Aber auch die moderne technologische Überlegenheit ermutige dazu, die Natur als etwas Gütiges und Positives zu betrachten – solange, bis eine Krankheit oder eine Katastrophe den Menschen und eine solche Vorstellung mitleidslos erschüttere. Die christliche Auffassung von Gott und der Natur ist nach Hart anders gelagert: Der Gläubige werde betrachte in der geschaffenen Welt die Herrlichkeit Gottes – eine Herrlichkeit, die der erlösten Natur als Grundlage diene.
Schönheit und Schrecken
Diese Sicht führe jedoch nicht zu einer Art oberflächlichem Optimismus hinsichtlich der Natur und der Gegebenheit von Leben und Tod. Der Christ betrachte die Welt mit den Augen der Liebe. Für ihn sei die Natur viel mehr als nur eine kunstvolle, funktionierende Maschine, wie sie die Deisten annehmen, und viel mehr als die mechanistische Sicht der Natur der Moderne. Der Christ sehe die Welt in ihrer Schönheit und in ihrem Schrecken; in ihrer ursprünglichen und in ihrer endgültigen Wahrheit: nicht nur als «Natur», sondern als Schöpfung.
Das christliche Denken weise Geschehnissen wie Unglück und Leid eine neue Dimension zu: Gott könne aus diesen Situationen Gelegenheiten machen, seine guten Pläne zum Ziel zu führen, auch wenn die Ereignisse in sich selbst wertneutral seien. Nach der Lehre des Evangeliums kann Gott niemals besiegt werden, ja mehr noch: Der Sieg über Unheil und Tod ist bereits errungen. Aber es handelt sich um einen Sieg, der seine Erfüllung (noch) nicht erreicht hat: Wir müssen warten bis zum endgültigen Kommen Gottes. Für Christen, die wirklich an diese Verheissung glauben und aus ihr leben, sollte die Realität von Tod und Leid kein unüberwindliches Hindernis darstellen. Die letzte Antwort sieht anders aus.
Quellen: Zenit/Islam de/Livenet
Datum: 27.12.2005