«Ron Sider war das linke Gewissen der US-Evangelikalen»
PRO: Viele Menschen setzen das Wort evangelikal gerne
mit konservativ gleich. Beim kürzlich verstorbenen Ron Sider war das anders. Er galt als linksevangelikal. Was
heisst das eigentlich?
Tobias Faix: Er sah sich als Teil der weltweiten
evangelikalen Bewegung, legte aber einen besonderen Fokus auf Themen wie
soziale Gerechtigkeit, Menschenwürde, Menschenrechte und den Einsatz für
marginalisierte Gruppen. Das klingt heute gar nicht so spektakulär. In den
1960er und 1970er Jahren war die Christenheit in ihrem Missionsverständnis aber
stark polarisiert. Auf der einen Seite gab es die Ökumene, die unter Mission
vor allem die soziale Tat verstanden hat, es wurde damals von der
«Schalomisierung» gesprochen. Und es gab die Evangelikalen, die unter Mission
vor allem Evangelisation verstanden.
Also Bekehrung zu Gott.
Genau, da war Billy Graham ganz stark, der als
Megastar ganze Stadien füllte. Auf der anderen Seite gab es aber eben auch eine
sehr kritische Auseinandersetzung um Mission nach der Kolonialisierungszeit:
Darf man überhaupt noch evangelisieren? In dieser Frage waren die Christen sehr
gespalten. Ron Sider nahm eine Zwischenposition ein. Als Evangelikaler war er
für Evangelisation, verstand die soziale Aktion aber auch als gleichwertigen
Teil der Mission. Mit dieser Kombination war er etwas Besonderes.
Und er hat sich so solidarisiert mit vielen Theologen aus dem globalen Süden: René Padilla aus Argentinien, David Bosch aus Südafrika, Viny Samuel aus Indien. 1973 schickten sie einen Bussaufruf in die evangelikale Welt dafür, dass die Evangelikalen das soziale Engagement und den Einsatz für Armut so vernachlässigen. Das fanden viele natürlich nicht gut. 1974 schlug gewissermassen die Geburtsstunde der Evangelikalen mit dem Lausanner Kongress, zu dem Billy Graham eingeladen hat. Vertreter aus 150 Ländern sollten ein grosses Manifest erarbeiten, die Lausanner Verpflichtung. Diese sollte manifestieren, dass weltweit alle Evangelikalen in eine Richtung gehen: Erweckung und Evangelisation.
Ron Sider gehörte auf diesem Kongress zu den Kritikern dieses Vorhabens, da das eine rein westliche Sichtweise des Evangeliums darstelle, die durch eine südliche Perspektive für soziale Gerechtigkeit ergänzt werden müsse. 500 Delegierte solidarisierten sich mit dieser Meinung, Streit war die Folge. Aber dadurch kam die Ergänzung in die Lausanner Verpflichtung (1974), Artikel 5, dass für Evangelikale beides zusammengehören sollte: Evangelisation und soziales Engagement.
«Wir tun Busse für dieses unser Versäumnis und dafür, dass wir manchmal Evangelisation und soziale Verantwortung als sich gegenseitig ausschliessend angesehen haben. Versöhnung zwischen Menschen ist nicht gleichzeitig Versöhnung mit Gott, soziale Aktion ist nicht Evangelisation, politische Befreiung ist nicht Heil. Dennoch bekräftigen wir, dass Evangelisation und soziale wie politische Betätigung gleichermassen zu unserer Pflicht als Christen gehören.»
War es nicht auch das ursprüngliche Ziel von Lausanne,
diese Strömungen zu vereinen?
Aus westlicher Perspektive eher nicht.
Warum waren exponierte Kritiker wie Ron Sider dann
eingeladen?
Niemand in der Lausanner Bewegung war ja gegen
soziales Engagement. Es ging eher um die Zuordnung der beiden Konzepte, um die
Vorrangstellung des Wortes gegenüber der Tat, wie es im ersten Entwurf
vorgesehen war. Es war unter anderem Ron Siders Verdienst, dass das sehr
prominent durch Artikel 5 ergänzt wurde: «Wir tun Busse, (…) dass wir manchmal
Evangelisation und soziale Verantwortung als sich gegenseitig ausschliessend
angesehen haben.»
Ron Sider hat auch politisch Position bezogen. Was
waren seinen Kernthesen?
Berühmt geworden ist er 1977 mit dem Buch «Rich Christians in an Age of Hunger», das 400'000 Mal verkauft worden ist. Eines
seiner Kernthemen war, dass er sich immer wieder für soziale Gerechtigkeit
einsetzte. Er hat schon sehr früh über die Globalisierung geschrieben und die
Zusammenhänge unseres Reichtums mit dem Armut in der Welt gesehen. Dadurch
hatte er weltweit viele Kontakte und war gewissermassen ein globaler Theologe.
Er kritisierte das eigene westliche Markt– und Kapitalismusgesteuerte
Christentum und setzte sich für Christinnen und Christen in den südlichen
Ländern ein, die unter struktureller Armut zu leiden hatten.
Er schrieb auch die Bücher «The Scandal of the Evangelical Conscience» und «The Scandal of Evangelical Politics». Das klingt ja nach Empörung.
Man muss dabei den Kontext beachten. In seiner
Hauptwirkungszeit in den 1970er bis 1990er Jahren war etwa jeder zweite US–Amerikaner
evangelikal. Deshalb wurde Siders Stimme auch in vielen politischen Magazinen
und Debatten gehört. Nach seinem Tod hat die New York Times einen mehrseitigen Nachruf verfasst – das muss man sich mal vorstellen. Es gibt nur ganz wenige
Evangelikale, die eine so grosse Bedeutung haben.
Ron Sider war gewissermassen das linke Gewissen der Evangelikalen in den USA. Er war gegen Atomkraft und Krieg, und hat manche politischen Ziele, die den Evangelikalen heilig waren, hinterfragt. Eine Sache wird häufig unterschätzt: Dass er so viel Gehör fand, lag auch an seiner Persönlichkeit und seinem Charakter. Wenn Leute den Skandal suchen, wollen sie im Mittelpunkt stehen. Das tat Sider nicht. Er war ein eher ruhiger und besonnener Mensch mit einer intensiven Jesusfrömmigkeit. Das haben ihm selbst seine Gegner abgenommen.
Seine Kritik zielte nie auf Einzelpersonen, sondern auf Strukturen, Denkmuster und Weltbilder. Viel von dem, was wir heute unter ganzheitlichem Evangelium verstehen, geht auf Ron Sider zurück: Mit Jesus in der Mitte sich einsetzen für die Menschen in Not und die Probleme dieser Welt.
Ron Sider war zwar gegen Abtreibung und gegen die
gleichgeschlechtliche Ehe, vertrat auf der anderen Seite aber politisch linke
Ideale. Wo hat er sich theologisch von seinen konservativen Geschwistern
besonders abgehoben?
In seiner Zeit war vieles in der evangelikalen
Theologie etwas Gesetztes, was durch Missionstätigkeit durch alle Welt und alle
Kulturen verkündet wurde. Sider betonte, dass sich Theologie, Glaube und
Spiritualität in unterschiedlichen Kontexten verändern und dass man dadurch
auch zu anderen ethischen und theologischen Positionen kommen kann. Das war
schon ein Skandal.
Es ging ihm um zwei Richtungen. Das eine war eine Kritik an der Genügsamkeit der westlichen Christenheit, die sehr innerkirchlich lebte: Wir sind zufrieden, wenn wir gute Predigten, Seelsorge und Lobpreis haben, und dann spenden wir noch ein bisschen was für unser geistlich soziales Gewissen, schicken ein paar Missionare los und die tun auch was Soziales. Diesen Menschen warf er vor, «halbe Christen» zu sein, weil die andere Hälfte fehlt: Der globale Blick auf arme Länder, die wir nicht aussaugen dürfen und die uns geistlich sogar einiges voraushaben.
Er wollte, dass wir uns hier und jetzt für mehr globale und soziale Gerechtigkeit einsetzen. Stattdessen haben wir im Westen einen ganz anderen Kontext, über den wir uns bewusst sein müssen. Wir beten «Unser täglich' Brot gib uns heute» – und dann gehen wir zum Kühlschrank und holen uns, was wir wollen. Das ist in vielen südlichen Ländern anders. Da weiss man nicht, ob man sein tägliches Brot auch bekommt, das Gebet wird zum Glaubensakt.
Siders Kritik ging mit dem Postkolonialismus einher, der sich kritisch mit westlichem Handeln beschäftigte. Er mischte dabei in der theologischen Debatte mit über Ungerechtigkeiten, von denen wir nur einseitig profitieren und die wir bekämpfen müssen.
Galt Sider als «enfant terrible» oder als
Paradiesvogel? Oder war er gut integriert?
Das kommt darauf an, wen man fragt. Ich habe in den
1990ern an der Columbia International University in South Carolina studiert. Da
stand Sider für viele eher am Rand des Evangelikalismus. Ganz anders bei meinen
Freunden an der Westküste oder in New York, da galt Sider als das Vorbild
schlechthin.
Ist die Bezeichnung «linksevangelikal» eigentlich
richtig?
Damals ja, heute sammeln sich Ron Siders Nachfolger
wie Shane Claiborne unter dem Begriff Red Letter Christians. In Deutschland
würden wir dazu vielleicht «progressiver Evangelikaler» sagen.
«Progressiv» heisst «fortschrittlich». Sider hat aber doch eigentlich Werte betont, die
es schon immer gab, vom Alten und Neuen Testament, in der Kirchengeschichte,
gerade auch unter den pietistischen und evangelikalen Vätern, die sich sehr
stark gegen Armut eingesetzt haben. Erst im 20. Jahrhundert scheint sich eine
gewisse Einseitigkeit entwickelt zu haben.
Absolut. Der Pietismus kennt die starke Verbindung von
Evangelisation und sozialer Aktion seit 300 Jahren. Ich glaube, deshalb war Ron
Sider auch eher unter Freikirchlern in Deutschland so berühmt, während seine
Thesen für den landeskirchlichen Pietismus nichts Neues und schon gar kein
Skandal waren. Sider war auch ein Held der Jesus–People–Bewegung.
Sider hat den Evangelikalen also ins Gewissen geredet.
Jahrzehnte später sind die USA gespalten wie nie zuvor. Sider hat noch 2020
Evangelikale scharf kritisiert, die Trump unterstützen. Währenddessen enteilt
die Christenheit im globalen Süden dem Westen in geistlicher Sicht, es gibt
immer weniger Kirchenmitglieder im Deutschland. Eigentlich hat sich alles, was
Sider kritisiert hat, doch sogar noch beschleunigt.
Ich würde sagen: Jein. Natürlich ist seine Kritik am
westlichen Christentum immer noch so aktuell wie vor 30 Jahren. Dass sich
teilweise wenig getan hat, dafür könnte man Ron Sider kritisieren. Aber besser:
Wir kritisieren uns selbst und stellen fest: Wir sind ziemlich resistent
gegenüber Kritik und wir lernen wenig dazu. Eine Frucht dieses Nicht–Lernens
ist aus meiner Sicht auch, dass Freikirchen, Landeskirchen und die katholische
Kirche sich nicht gut entwickelt in Deutschland.
Ron Sider hat die kreative Spannung aus Jesusfrömmigkeit und sozialem Engagement gehalten. Er achtete darauf, dass er nicht nur als sozialer Aktivist oder als besserwisserischer Theologe, sondern es war ihm immer wichtig, dass die Erkenntnisse des Evangeliums gelebt werden. Für mich ist er deswegen immer noch ein Vorbild. Im deutschen Evangelikalismus erleben wir, dass diese Spannung immer weniger ausgehalten wird. Die Pole gewinnen an Macht. Das ist nicht gesund.
Deshalb wäre ein Ron Sider heute so wichtig: Gesprächsfähigkeit, Integrität, nicht davonrennen, sich kritisieren lassen, das steht auch den progressiven Evangelikalen gut zu Gesicht. Und die Kritik von Ron Sider, nicht einseitig zu werden und in dieser Jesusfrömmigkeit zu leben, das ist für mich eine ständige Ermahnung für mein eigenes Christsein.
«Dieser Artikel erschien zuerst bei PRO Medienmagazin»
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Datum: 18.08.2022
Autor: Nicolai Franz
Quelle: PRO Medienmagazin