Nach Wahlen in Indien

Lage für Christen bleibt weiterhin ungewiss

Die Lage der Christen Indiens ist nach den Wahlen weiterhin ungewiss.
Indien hat gewählt und der indische Präsident Modi dabei deutliche Verluste erlitten. Dass es Minderheiten auch künftig schwierig haben dürften, erklärt eine lokale Partnerin der Hilfsorganisation Open Doors in Indien.

Wie schätzen Sie das Wahlergebnis in Indien ein?
Priya Sharma (Name geändert): Insbesondere die christlichen und muslimischen Minderheiten waren erleichtert. Das Ergebnis hat gezeigt, dass mehr Inder Wert auf Säkularität legen und die Demokratie der Autokratie vorziehen und die kommunale Agenda der Bharatiya Janata Party (BJP) ablehnen. Es gibt aber immer noch Bundesstaaten, in denen die BJP die neue Regierung bildet und die Minderheiten Angst haben, dass die Angriffe gegen sie zunehmen.

Mit Modi hat wieder ein Hindu gewonnen. Was bedeutet das für die Christen im Lande?
Hier muss man unterscheiden. Modi vertritt eine Hindutva-Ideologie. Nicht alle Hindus teilen diese Ausrichtung, sondern gehen empathisch mit Minderheiten um. Mit ihrem aktuellen Ergebnis ist die BJP auf Koalitionspartner angewiesen. Die Christen haben dafür gebetet, dass die BJP nicht wieder an die Macht kommt. Viele hoffen, dass nach diesem Ergebnis die Gräueltaten gegen Minderheiten zurückgehen. Für die BJP wird es schwieriger, national eine polarisierende und spaltende Politik gegenüber religiösen Minderheiten zu betreiben. Sie könnte diese aber ins Visier nehmen, indem sie lokal zur Selbstjustiz ermutigen oder die Medien nutzen, um Hass und Fehlinformationen zu streuen. In den acht Bundesstaaten, in denen sie regiert, ist das durchaus möglich.

Was ist mit anderen religiösen Minderheiten?
Auch andere religiöse Minderheiten haben mit diesen Herausforderungen und der Unterdrückung zu kämpfen. Sie werden von Hindutva-Ideologen, den Fundamentalisten, angefeindet und stehen unter ständiger Beobachtung. Tatsächlich sind Muslime offener Kritik, schwerer Diskriminierung und Angriffen unter dem Vorwand des «Rindfleischessens» und des «Liebesdschihads» ausgesetzt. Christen hingegen werden angegriffen, wenn sie sich bekehrt haben. Während seines Wahlkampfs hat Narendra Modi die Muslime verhöhnt. Die meisten seiner Reden waren gegen Muslime gerichtet. Im neu gebildeten Kabinett Modi sind weder Christen noch Muslime vertreten.

Indien ist geprägt von Korruption, hoher Arbeitslosigkeit und Inflation. Was ist das grösste Problem für die Menschen?
Indien steht vor verschiedenen Herausforderungen. Wir haben eine hohe Inflation, Arbeitslosigkeit und Korruption. Die Arbeitslosigkeit ist für Menschen aller Schichten ein grosses Problem. Vor allem die Menschen zwischen 20 und 30 Jahren sind oft arbeitslos. Wenn sich Technologien wie die Künstliche Intelligenz weiterentwickeln, wird es noch schwieriger, die Menschen zu beschäftigen. Um Arbeit zu finden, wandern Familien ständig in Städte und andere Bundesstaaten ab. Der Mangel an Arbeitsplätzen veranlasst viele Menschen dazu, das Land zu verlassen. Inflation und Korruption haben die Reichen reicher und die Armen ärmer gemacht. Die Mittelschicht hat Schwierigkeiten, ihre Bedürfnisse zu befriedigen. Zu diesen Problemen kommen, dass Minderheiten durch religiöse Extremisten und die Regierungen der Hindutva-Ideologie diskriminiert und gedemütigt werden.

Worauf führen Sie die Verluste von Modi und seiner Partei zurück?
Der wichtigste Faktor für das Schrumpfen der BJP und das starke Comeback der Partei INDIA ist die Ablehnung der kommunalen Agenda der Regierungspartei. Der vielleicht wichtigste Grund ist eine narzisstische Erwartungshaltung. Modi hat seine Wahlkampagne mit dem absurden und weit hergeholten Slogan «Abki baar, 400 paar» («Diesmal mehr als 400») begonnen. Er wollte mit seiner Allianz mehr als 400 Sitze erringen – am Ende sind es 240 Sitze geworden. Die Kampagne «Rettet die Demokratie» des Oppositionsblocks INDIA hat gemeinsam versucht, die Regierung Modis zu stoppen. Auch der Betrug mit Wahlanleihen vor den Wahlen hat der Partei Modis geschadet. Die gebildeten Schichten konnten das Ausmass dieses Betrugs ermessen. Ausserdem hatte die BJP-Regierung viele ihrer Wahlversprechen nicht eingehalten: sei es die Eindämmung der Korruption oder die Schaffung von mehr Arbeitsplätzen.

Wie hat er die religiösen Minderheiten im Wahlkampf thematisiert?
Modi hat eine äusserst schädliche Propaganda gegen die religiösen Minderheiten, insbesondere die Muslime betrieben. Die Wahlkommission hat ihn wegen einer Reihe von Hassreden auch verwarnt. Hinzu kam, dass er sich zu kommunalen Themen wie der Gewalt in Manipur kaum geäussert hat. In Uttar Pradesh war die Einweihung des Ram-Tempels das wichtigste Ziel der BJP, um die Stimmen der Hindus zu gewinnen. Um den Termin vor den Wahlen einzuhalten, wurden noch kurzfristig Häuser abgerissen und Menschen umgesiedelt. Diese Herausforderungen hat die BJP aus meiner Sicht komplett ignoriert und zu einer massiven Niederlage im grössten Bundesstaat geführt.

Was gibt Ihnen Hoffnung für die Zukunft? Wovor haben Sie Angst?
Die allgemeine Ablehnung der kommunalen Agenda der BJP gibt den Christen Hoffnung. Einerseits könnte die BJP zögern, offiziell antichristliche Massnahmen und Gesetze einzuführen, da sie lieber die Folgen ihres Handelns abwägen möchte. Andererseits ist es auch möglich, dass die BJP über ihre Landesregierungen weiterhin an einer antichristlichen Politik arbeitet.

Wie gross sind die Chancen, beim Thema Religionsfreiheit und im Kampf gegen die Verfolgung von Christen Fortschritte zu erzielen?
Es sind neue Wege der Hoffnung in Indien zu erkennen. Der Raum, in dem man seine Stimmen erheben kann, kann erweitert werden. Die INDIA-Koalition kristallisiert sich als starke Opposition zur BJP heraus und könnte die lokalen Verbindungen nun nutzen, um sich für die Religionsfreiheit der Christen einzusetzen. Auch die Verbündeten der gegenwärtigen NDA-Regierung – TDP und JDU, die nicht mit der Hindutva-Ideologie der BJP übereinstimmen – können von den Lobby-Delegationen angesprochen werden, um sicherzustellen, dass Christen nicht ins Visier genommen werden und ihre Rechte respektiert werden. Die Koalition könnte auch Massnahmen ergreifen, um die Religionsfreiheit zu gewährleisten.

Dieser Artikel erschien bei PRO Medienmagazin.

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Datum: 01.07.2024
Autor: Johannes Blöcher-Weil
Quelle: PRO Medienmagazin

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