Organische Ursachen für religiösen Fundamentalismus?
Bombenanschlag in einem Einkaufszentrum. Der Täter: ein islamistischer Fundamentalist. Mord in Israel. Der Täter: ein jüdischer Fundamentalist. Säureanschlag eines indischen Mannes auf seine Ehefrau. Der Täter: ein hinduistischer Fundamentalist. Es ist ein weltweites Phänomen, dass sich Menschen nicht nur in ihren politischen, sondern gerade in ihren religiösen Ansichten radikalisieren. Dies geschieht in unterschiedlichsten Kulturen und Glaubensüberzeugungen. Die Leute sehen ihre Einstellung als «einzig wahre» an und vertreten sie äusserst vehement gegenüber Andersdenkenden – bis hin zu Gewalt und Mord. Doch warum entwickeln manche Menschen solch ein Verhalten und andere nicht?
Neue Ergebnisse der Hirnforschung
Dieser Frage ging ein Forscherteam der Harvard Medical School rund um den Neurologen Michal Ferguson nach, der besonders im Bereich Neurospiritualität forscht. Bei der Untersuchung von Patienten, die wegen Hirnschädigungen in Behandlung waren, stiessen sie auf «ein Netzwerk von Gehirnregionen, die, wenn sie beschädigt werden, mit stärkerem religiösem Fundamentalismus verbunden sind». Genauere Ergebnisse sind im US-Magazin PNAS zu finden, sowie in deutscher Übersetzung bei scienexx.de. Wenn bestimmte Bereiche im Hirn Läsionen aufweisen (Gewebeschädigungen), dann könnte dies Mitauslöser fundamentalistischer Einstellungen sein. Das Neurologenteam entdeckte, dass Menschen mit ähnlichen Hirnschädigungen sich ausserdem eher kriminell verhalten oder erfundene Geschichten und Falschaussagen verbreiten – offensichtlich ist also ihre Selbstwahrnehmung in einem grösseren Umfang gestört. Demnach könnten religiöser Fundamentalismus und Hirngespinste dieselbe neurologische Grundlage haben. Ausserdem helfen diese Befunde laut Forscherteam, die Feindseligkeit und Aggressivität mancher religiösen Fundamentalisten zu verstehen.
Was die Ergebnisse nicht sagen
Nun zeigen diese Ergebnisse keinen Eins-zu-eins-Zusammenhang. Menschen werden nicht durch eine organische Schädigung zu (gewalttätigen) Fundamentalisten, die keine Verantwortung für ihr Tun und Denken tragen. Das Team um Ferguson unterstreicht: «Viele Faktoren tragen zum Fundamentalismus bei, darunter affektive, kognitive, erfahrungsbezogene, genetische, familiäre, institutionelle, entwicklungsbezogene und kulturelle Variablen.» Sie widersprechen damit jedem Denken an einen Automatismus. So leiden nicht alle Fundamentalisten zwangsläufig an entsprechenden Hirnschädigungen.
Der Zusammenhang zwischen einer verzerrten Wahrnehmung der Wirklichkeit und Fundamentalismus ist spannend, doch auch hier widerspricht das Forscherteam jeder populistischen Deutung: «Unsere Daten können uns vielmehr dabei helfen, die Art der kognitiven oder emotionalen Verarbeitung zu verstehen, die die Wahrscheinlichkeit fundamentalistischer Einstellungen erhöht oder verringert.»
Vorsicht vor bequemen Schubladen
Wenn wissenschaftliche Erstergebnisse auf negativ aufgeladene Begriffe wie «Fundamentalismus» stossen, ist Vorsicht angesagt. Bei allem Verständnis dafür, dass Gewalt und ideologische Engführung abzulehnen sind, ist nicht jeder, der ein glaubensmässiges Fundament besitzt, ein Fundamentalist. Nicht jede starke Überzeugung ist negativ. Nur wenige Konservative oder Evangelikale gehören in diese Schublade. Wo das Ganze als Kampfbegriff missbraucht wird oder angstbesetzt ist (gerade in Bezug auf Islamismus), kann der Begriff völlig in die Irre führen. Ein «Ich habe es ja schon immer geahnt…» ist also kaum die richtige Reaktion auf diese Forschungsergebnisse.
Gleichzeitig kann es hilfreich sein zu begreifen, dass das aggressive Schwarz-weiss-Denken im Fundamentalismus nicht nur eine persönliche Entscheidung der betroffenen Personen ist, sondern auch organische Ursachen hat.
Zum Thema:
Faktencheck Christentum: Ein Fundamentalist ist nicht wie der andere
Judith Forgoston: Ausbruch aus den Trümmern fundamentalistischer Theologie
Datum: 09.12.2024
Autor:
Hauke Burgarth
Quelle:
Livenet / Scinexx.de