Studientag an Uni Fribourg

Walter Dürr: «Die Kirche sollte weniger reden und mehr tun»

Vom 15. bis 17. Juni finden an der Universität Fribourg Studientage unter dem Titel «Re-Imagining the Church in the 21st Century» statt. Für Organisator Walter Dürr liegt die Zukunft der Kirche nahe bei den Fragen der Menschen.
Walter Dürr
Walter Dürr

Livenet: Walter Dürr, die Studientage an der Uni Fribourg laufen unter dem Titel «Re-Imagining the Church». Wozu brauchen wir ein Bild, eine Vorstellung, von Kirche?
Walter Dürr:
Sich die Kirche neu vorzustellen, bedeutet erst einmal, dankbar zu sein für das viele Gute, das wir heute schon haben. Und gleichzeitig von einer Kirche zu träumen, die sich immer mehr vom Reich Gottes herausfordern lässt.

Träumen – das tönt eher abgehoben.
Im Wort Re-imagining steckt Image drin: ein neues Bild von Kirche gewinnen. Es kommt darauf an, ob bloss Menschliches geträumt wird oder ob Gott uns neu ahnen lässt, wie er die Gemeinde sieht. Ich beziehe das auch auf die reformatorische Losung, die Kirche solle sich ständig erneuern (semper reformanda). Sich an Jesus Christus und seiner Reich-Gottes-Praxis zu orientieren, ist eine Herausforderung für jede Kirche. Davon zu träumen, wie wir persönlich und als Gemeinde Jesus ähnlicher werden können, das bedeutet sich die Kirche neu vorzustellen. Woran lässt sich ablesen, dass wir Jesus ähnlicher werden? Ist die Gemeinschaft ein Ort, wo Menschen heimkommen, ankommen können und Gottes Liebe erfahren? Oder muss man sich erst beweisen und etwas leisten, bevor man aufgenommen wird? Jesus hat eine ansteckende Heiligkeit gelebt. Er hat Menschen verändert, die zu ihm kamen.

Was haben wir hinter uns zu lassen, um dieses Bild von Kirche, diesen Ort der Annahme, neu zu gewinnen?
Im 21. Jahrhundert geht es darum, sich die Schrift vertieft anzueignen. Die Antworten des letzten Jahrhunderts werden angesichts der heutigen Fragen nicht genügen. Wer sich auf «Re-Imagining the Church» einlassen will, muss sich von den Fragen unserer Zeit herausfordern lassen, mit Hilfe des Heiligen Geistes im Wort Gottes ganz neue Antworten zu finden.

An welche Fragen denken Sie?
Um eine zu nennen: Wie gestalten Frauen die Kirche mit? Wir kennen bestimmte traditionelle Rollenmuster; sie werden mit Bibelstellen gestützt. Theologen wie Adolf Schlatter leiten uns aber an, neben den konservativen Schriftstellen 'subversive' Stellen ernst zu nehmen. Wie kam es, dass man Sklaverei während Jahrhunderten in Ordnung fand? Was Paulus – durchaus subversiv – an Philemon schrieb, übersah man geflissentlich. Die Schrift ermöglicht neue Lesarten jenseits des Gewohnten. Zur Frauenfrage ist in ihr mehr Dynamit, als manchen lieb ist.

Soll die Kirche provozieren?
Ja. Vor allem mit zwei Dingen: mit echter Gemeinschaft und einer gelebten Liebe nicht nur unter Christen, sondern vor allem auch für Menschen am Rand der Gesellschaft. Jesus ist an dieser Stelle ziemlich radikal. Auf die Frage, wer unser Nächster sei, erzählt er die Geschichte vom barmherzigen Samariter und kehrt die Frage um: Wem wirst du ein Nächster sein?

Geht es darum, eine andere Blickrichtung zu gewinnen?
Wichtig scheint mir, dass Kirchen sich von kulturellen Bildern trennen können. Das Christsein ist nicht so mit dem Schweizersein zu verbinden, dass wir uns in unserer Begrenztheit verabsolutieren. In unserem Gemeinwesen inkarniert sich hoffentlich etwas vom Reich Gottes – doch dieses ist nicht das Schweizertum. Darauf insistierte ich  vor kurzem in unserem Gemeindewochenende mit Gästen aus Syrien. Jesus sagt von sich, er sei «der Weg, die Wahrheit und das Leben». Wenn das stimmt, ist er der Massstab und die Herausforderung für alle Kirchen, Traditionen und Kulturen. Die Arbeit, zwischen der eigenen Kultur und der Kirche, wie Jesus sie gestalten will, zu unterscheiden, ist allerdings alles andere als einfach. Ein Sprichwort sagt: «Wenn du etwas über Wasser lernen willst, dann rede nicht mit dem Fisch darüber», denn der hat keine Distanzdazu, der kennt überhaupt nichts anders. Übertragen heisst das: Wenn du über die Erneuerung der Kirche reden willst, rede nicht mit der Kirche (allein) darüber, vielmehr mit dem Heiligen Geist.

Wir hätten uns an der Reich-Gottes-Praxis von Jesus zu orientieren, sagten Sie eingangs. Worauf wollten Sie hinaus?
Nicht nur Jesu Sterben und Auferstehung, sondern auch sein Wirken und Handeln vorher sollen uns bestimmen: Er proklamierte Gottes Herrschaft, wandte sich den Armen zu, ass mit Sündern und führte Menschen aus ihren Sackgassen. All das gehört zur Praxis, die uns herausfordert, wenn wir Jesus folgen. Verbündet sich die Kirche mit  den Mächtigen oder hält sie sich zu den Armen? Finden diese Heimat in ihr?

Und das bedeutet für Evangelisation im 21. Jahrhundert …
… dass sie dialogisch und inkarnatorisch geschehen soll. Das heisst: weniger reden und mehr tun. Das Evangelium zuerst einmal für uns selber radikal leben und dann sagen: «Komm und sieh». Gelingt es uns, in der Kirche wieder eine radikale Gemeinschaft zu leben, die den Menschen am Rand der Gesellschaft dient und die «der Stadt Bestes sucht», die sich also nicht mehr vor allem um sich selber dreht? Dann wird Evangelisation attraktiver. Die Gemeinde kann sich fragen: Wenn sie entrückt würde, was würde der Stadt fehlen?

Wie sollten wir für neues kirchliches Leben beten?
Eine gute Frage. Wir sind uns oft viel zu wenig bewusst, welche Kraft im Gebet liegt. Vermutlich geht es nicht so sehr ums Wie, sondern dass wir beten für den Prozess der wachsenden Einheit der Christen. Einheit meint nicht «Einerleiheit» – würden alle gleich, widerspräche dies der Schöpfungsvielfalt Gottes. Vielmehr geht es um eine «versöhnte Vielfalt». Damit ist die Hauptrichtung unserer Gebete auch schon angegeben: Versöhnung führt dazu, dass wir uns als Geschwister anerkennen und gemeinsam das Evangelium so leben, dass «die Welt erkennt», dass Gott seinen Sohn gesandt hat, um sie zu retten, gemäss Johannes, Kapitel 17, Vers 23. Ich hoffe und bete, dass viele Christen sich aufmachen, dafür beten und sich auch dafür einsetzen.

Welches Ziel – über das diesjährige Thema hinaus – verfolgen Sie mit den Studientagen?
Dass die Tage in Fribourg zu einem Ort werden, wo engagierte Christen – und alle andern auch! – sich einmal pro Jahr treffen, einander begegnen und gute Theologie gemeinsam erleben. Wenn reformierte Pfarrer und Pfarrerinnen, freikirchliche Pastoren und römisch-katholische Verantwortliche, engagierte Laien und Priester begeistert sind, sich erneuern lassen und dabei sogar zu Freunden werden, dann wird dies das geistliche Klima der Schweiz nachhaltig verändern. Ich träume, dass der Graben zwischen akademischer Theologie und frommer Gemeinde kleiner wird. Die Studientage sind für alle Interessierten ein hervorragender Ort, bei dieser Bewegung mitzumachen.

Zum Thema:
«Es braucht zwei Bekehrungen»: Walter Dürr zu den Thesen von Vishal Mangalwadi
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Datum: 03.06.2016
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet

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