Glaube und Erfahrung müssen nicht übereinstimmen
Evangelikale und liberale Theologie sind Schwestern, beides sind Erfahrungstheologien. Zwar sehen evangelikale und liberale Christen vieles völlig unterschiedlich, aber sie teilen die gemeinsame Überzeugung, dass Glaube und Erfahrung übereinstimmen sollten. Wenn Glaube und Erfahrung nicht übereinstimmen, dann hinterfragt der Evangelikale sein Leben, der Liberale seinen Glauben.
Das Buch von Martin Benz handelt vom «Umzug» aus der alten evangelikalen Wohnung in eine neue liberale Wohnung. Er bezeichnet die neue Wohnung lieber als progressiv oder postevangelikal, doch seine zentralen Thesen haben enge Entsprechungen zu den Anfängen der liberalen Theologie und sind nicht so innovativ, wie das Label «progressiv» suggeriert. Auch Friedrich Schleiermacher, der Vater der liberalen Theologie, bezeichnete sich nach seiner Abwendung vom Pietismus nicht als liberal, sondern als «Pietist höherer Ordnung», sozusagen als Post-Pietist.
Glaube dem Leben anpassen?
Das erste Kapitel beginnt mit der Überzeugung, dass Glaube immer wieder die Übereinstimmung mit der eigenen Lebensrealität suchen soll (S.14). Was Benz letztlich zu seinem Glaubensumzug geführt hat, ist, dass sein alter Glaube und seine Erfahrungen immer stärker auseinanderklafften. Der permanente Versuch, das Leben dem Glauben anzupassen, kann krank machen. Wenn aber Glaube und Erfahrung übereinstimmen müssen und es keine Spannungen geben darf, gibt es dazu nur eine Alternative: sen Glauben dem Leben anpassen.
Ich stimme Benz durchaus in einigen Punkten zu, doch nicht in seiner Grundprämisse. Paulus schreibt in 2. Korinther, Kapitel 4-5 sehr persönlich über seinen Glauben und sein Leben. Glaube und Leben stimmen so wenig überein, dass er den Satz formuliert, dass wir von Gott einen Schatz empfangen haben, den wir in irdenen Gefässen haben. Offensichtlich passen Schatz und Gefäss überhaupt nicht zueinander. Das ist die Theologie des Kreuzes: Die Gemeinde Jesu verkündet den Sieg, erfährt aber die Niederlage, sie verkündet das Leben, erfährt aber Verfolgung und Hinrichtung. «So sind wir denn allezeit getrost und wissen: solange wir im Leibe wohnen, weilen wir fern von dem Herrn; denn wir wandeln im Glauben und nicht im Schauen» (2. Korinther, Kapitel 5, Verse 6-7). Der Mensch sieht, was vor Augen ist, aber der Glaube richtet sich nicht auf das Sichtbare, sondern auf das Unsichtbare. Glaube ist Glaube auf Hoffnung hin. Er muss nicht die Übereinstimmung mit dem Leben suchen, sondern mit dem Verheissungswort Gottes.
Das Bibelverständnis
Wie in den Anfängen der liberalen Theologie beginnt auch bei Benz alles mit dem Bibelverständnis. In teils berechtigter Kritik, teils auch etwas überzeichneter Karikatur zeigt Benz, dass die, die behaupten, die ganze Bibel wörtlich zu nehmen, sehr selektiv darin sind, was sie wirklich wörtlich nehmen und was nicht. Daraus könnte man schliessen, dass es ein gründlicheres Nachdenken über den Umgang mit der Bibel braucht, doch Benz schliesst daraus, dass «Bibeltreue» nicht objektiv, sondern subjektiv ist und dass es gar nicht anders geht. Damit ebnet er den Weg, selber subjektiv und selektiv zu sein im Umgang mit der Bibel. Er macht die Not zur Tugend. Für fundamentalistisch Glaubende wie für progressiv Glaubende ist die Bibel dann ein Steinbruch, aus dem das gehauen wird, was ins eigene System passt.
Die wichtigste Strategie, Bibelstellen in ihrer Bedeutung für uns heute auszuschalten, ist für Benz ein Entwicklungsdenken. Wenn etwas in der Bibel nicht ins progressive Konzept passt, dann ist das vermutlich von Anfang an ein Irrweg der biblischen Autoren gewesen und spiegelt nicht Gottes Ansichten. Gott hat aus pädagogischen Gründen zugelassen, dass es in der Bibel steht, um diese Irrwege dann in Jesus Christus zu korrigieren. Benz bringt diesen Gedanken auf die Formel, dass alles in der Bibel Gottes Absicht ist, aber nicht alles Gottes Ansicht.
Gerade dieser Entwicklungsgedanke steht auch am Anfang der liberalen Theologie. Es ist der Grundgedanke von Gotthold Ephraim Lessings Schrift «Die Erziehung des Menschengeschlechts» (1780). Offenbarung müsse man sich als eine Erziehung der Menschheit vorstellen. «Erziehung», so Lessing, «gibt dem Menschen nichts, was er nicht auch aus sich selbst haben könnte». Die göttliche Offenbarung in alttestamentlicher Zeit richtete sich an ein «rohes und im Denken ungeübtes israelitisches Volk». Doch dann kam mit Jesus Christus ein besserer Pädagoge und verhalf zu einem geistigeren, weniger rohen Glauben. Mit der Aufklärung gelang die menschliche Vernunft aber zu einer solchen Reife, dass der Mensch überhaupt nicht mehr die Erziehung der biblischen Schriften braucht. Altes und Neues Testament haben ihren Zweck erfüllt. Bei Schleiermacher lautet der Gedanke dann so (1799): «Nicht der hat Religion, der an eine heilige Schrift glaubt, sondern der, welcher keiner bedarf und wohl selbst eine machen könnte».
Kritik am Alten Testament ...
Ganz so weit geht Benz nicht, aber er schlägt diesen Weg ein. Für ihn ist das Alte Testament die Zeit der Irrwege und falschen Gottesbilder. Gott hat all diese Vorstellungen zugelassen, teilweise gerade darum, weil sie falsch sind, damit er sie in seiner Menschwerdung in Jesus Christus korrigieren konnte. In Jesus sehen wir, wie Gott wirklich ist. Alles, was im Alten Testament nicht mit Jesus übereinstimmt, ist eine in Christus überholte Entwicklungsstufe und hat für uns nur die Relevanz, daran zu sehen, dass Gott (entgegen den alttestamentlichen Behauptungen) gerade nicht so ist. Dass diese Sicht der Dinge hochproblematisch ist mit Blick auf das Verhältnis zum Judentum, das im Buch von Benz immer wieder klischiert und fast nur negativ dargestellt wird, sei am Rande erwähnt.
... und an Jesus
Wendet sich Benz offen gegen diverse alttestamentliche Texte und sieht in Jesus gerade die Kritik und Korrektur dieser Texte offenbart, so bleibt auch Jesus von dieser Kritik nicht ganz verschont. Zwar kritisiert Benz Jesus nirgendwo offen, er übt aber stille (und intransparente) Kritik durch Auslassung. Auch von Jesus ist nur zu brauchen, was in das Gesamtbild eines progressiven Glaubens passt. Wenn Lessing und Schleiermacher nicht nur das Alte, sondern auch das Neue als eine vergangene Stufe der Gottesoffenbarung hinter sich zurücklassen wollen, so tut Benz dies in Bezug auf das Neue Testament zwar nicht explizit, aber faktisch vollzieht er diesen Schritt auch. Progressivität steht ja für Fortschrittsdenken und so kann die Entwicklung eines zeitgemässen Gottesbildes kaum vor 2'000 Jahren in Jesus zum Abschluss gekommen sein.
Es gibt auch andere Wohnungen
Mit dieser Rezension möchte ich denen, die aus ähnlichen Gründen wie Martin Benz ihre alte Glaubenswohnung verlassen möchten, nicht abraten, dies zu tun, denn ich verstehe, dass solche Überzeugungen, wie er sie biografisch am Anfang sehr offen schildert, krank machen können. Ich möchte nur zu bedenken geben, dass es auch andere Wohnungen gibt und dass man mit diesem Umzugshelfer möglicherweise gerade den Kern des Problems in die neue Wohnung mitnehmen wird, denn die neue Wohnung ist der alten in mancher Hinsicht ähnlicher, als Benz das selber sieht. Fortschritt ist Rückschritt, wenn er sich in der Richtung irrt.
Für die Suche nach einer besseren Wohnung könnte man sich an Martin Luther (der in seiner reformatorischen Entdeckung auch einen Wohnungswechsel vollzogen hat, aber weg von der Erfahrung, hin zum Wort) oder an Dietrich Bonhoeffer orientieren, die beide gerade das biblische Wort als «äusseres Wort» für entscheidend hielten. Denn solange alles um das Verhältnis meines Glaubens zu meiner Erfahrung geht, drehe ich mich nur um mich selbst. Das von aussen kommende Wort Gottes reisst mich los von mir selber, von meinen Glaubensüberzeugungen und Erfahrungen, es befreit mich aus meiner Selbstverkrümmung und richtet meinen Blick auf das Wort Gottes. In Aufnahme von Luthers Überzeugung, dass Glaube ein Glaube gegen die Erfahrung ist und darum nicht die Übereinstimmung mit der eigenen Lebensrealität sucht, schreibt Bonhoeffer in Gemeinsames Leben:
Der Christ weiss, Gottes Wort in Jesus Christus spricht ihn schuldig, auch wenn er nichts von eigener Schuld spürt, und Gottes Wort in Jesus Christus spricht ihn frei und gerecht, auch wenn er nichts von eigener Gerechtigkeit spürt. Der Christ lebt nicht mehr aus sich selbst, aus seiner eigenen Anklage und seiner eigenen Rechtfertigung. Er lebt ganz aus Gottes Wort über ihn, in der gläubigen Unterwerfung unter Gottes Urteil, ob es ihn schuldig oder ob es ihn gerecht spricht. Tod und Leben des Christen liegen nicht in ihm selbst beschlossen, sondern er findet beides allein in dem Wort, das von aussen auf ihn zukommt, in Gottes Wort an ihn.
Diese Entdeckung ist allen zu wünschen, die am eigenen Glauben oder am eigenen Leben krank werden. Doch ich fürchte, der Umzugshelfer von Martin Benz führt nicht in diese Richtung.
Eine etwas ausführlichere Auseinandersetzung mit konkreten biblischen Beispielen, die Martin Benz für sein Bibelverständnis anführt, findet sich hier: Daniel Option
Am Donnerstag, 18. Mai erscheint auf Youtube ein Livenet-Talk mit Autor Martin Benz. Darin geht er auf die Kritik von Benjamin Kilchör ein.
Zum Autor
Benjamin Kilchör ist Professor für Altes Testament an der STH Basel. Er betreibt auf Youtube den Kanal «Lectio Continua» (Fortlaufende Lektüre). Dort erläutert er Vers für Vers die Bibel, angefangen in Genesis Kapitel 1, Vers 1.
Zum Thema:
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Datum: 17.05.2023
Autor:
Benjamin Kilchör
Quelle:
Livenet