Hunderte sterben im Mittelmeer – und was ist unsere Verantwortung?
Das Mittelmeer, der Ort an dem viele Europäer ihren verdienten Jahresurlaub verbringen, erringt zurzeit traurige Berühmtheit als eine der tödlichsten Grenzen weltweit. Zehntausende von Menschen sind bereits umgekommen auf ihrer Flucht aus Eritrea, Syrien oder anderen Krisengebieten. Und Zehntausende werden noch sterben, wenn alles beim Alten bleibt und keine effektiveren Hilfsmassnahmen getroffen werden. Neben der grossen Betroffenheit, die momentan vorherrscht, wird bereits heftig diskutiert und gestritten, was geschehen muss. Soll Europa mehr Flüchtlinge aufnehmen oder ist unsere Kapazität bereits erreicht? Sollen die Probleme nicht besser politisch in Afrika gelöst werden? Aber wie und vor allem wann kann das geschehen? Und gibt es etwas, was wir als einzelne Christen tun können?
Die Menschen nicht aus den Augen verlieren
Zunächst einmal ist es wichtig, bei allen berechtigten Grundsatzfragen nicht die Menschen aus dem Blick zu verlieren, die auf der Flucht bereits ertrunken sind, oder die noch gerettet werden können. Zu viele Fernsehkommentare und Meinungen zum Thema erschöpfen sich in Richtigkeiten, die dies völlig ausser Acht lassen. Sicher sind strukturelle Überlegungen wichtig, doch nicht, während Menschen sterben. Als Ersthelfer am Unfallort mache ich mir auch keine Gedanken darüber, wie das Unfallopfer krankenversichert ist oder ob am Unfallort ein Tempolimit angebracht wäre: Ich überprüfe Herzschlag und Atmung und helfe. Sofort. Ohne Diskussion. Dies mag emotional und unsachlich wirken, doch wo steht geschrieben, dass sachlich richtig und emotional falsch sein soll? Wo es um Menschenleben geht, heisst es für mich, die Menschen nicht aus den Augen zu verlieren.
Mitdenken und Mitreden
Darüber hinaus ist es nötig, sich ein eigenes Bild zu machen, sich zu informieren, die Flüchtlingsfrage mit anderen zu besprechen – und dabei zu schnelle Antworten zu vermeiden. Das Thema ist komplex und eine schwarz-weisse Sichtweise oder Stammtischparolen werden ihm auf keinen Fall gerecht. Doch das heisst nicht, dass wir uns den betroffenen Menschen, ihren Schicksalen und Lebensfragen nicht annähern können. Und gleichzeitig sehen, wo unsere eigenen Möglichkeiten, aber auch Grenzen liegen. Interessanterweise redet auch Gott beim Thema «Flüchtlinge» mit – und zwar sehr deutlich: «Denn der Herr, euer Gott, … schafft Recht den Waisen und Witwen und hat die Fremdlinge lieb, dass er ihnen Speise und Kleider gibt. Darum sollt ihr auch die Fremdlinge lieben; denn ihr seid auch Fremdlinge gewesen in Ägyptenland.» (5. Mose, Kapitel 10, Verse 17-19)
Politiker unterstützen
In Krisensituationen erleben zuständige Politiker es oft, dass sie der Presse Rede und Antwort stehen sollen. Und dass sie von allen Seiten ins Kreuzfeuer genommen werden. Sofort helfen sollen sie. Die Hilfe darf aber nichts kosten, jedenfalls nicht uns. Und die geretteten Flüchtlinge sollen auf keinen Fall in unserer Nachbarschaft untergebracht werden… Was sie auch tun, es ist verkehrt. Wer hier mit «seinem» Abgeordneten Kontakt aufnimmt und ihn unterstützt, positive Rückmeldung für positive Ansätze gibt, vielleicht Gebet anbietet, der stärkt ihm den Rücken für seine schwierigen Aufgaben.
Betroffenheit akzeptieren
Immer wieder merkt man, wie subjektiv Betroffenheit ist. Diese Woche sind im Mittelmeer über 1'100 Menschen gestorben. Das ist schrecklich. Letzte Woche war es vielleicht «nur» die Hälfte. War das weniger schlimm? Unsere Betroffenheit fokussiert sich momentan auf die Nachricht der 900 umgekommenen Flüchtlinge. Dabei wissen wir genau, dass es noch viele andere Krisenherde auf der Welt gibt. Wir haben sie nur gerade nicht im Blick. In Mexiko fordern Drogenkriege seit Jahren Tausende von Toten, in Afghanistan nimmt die Gewalt kein Ende und im Kongo sind seit 1996 über 5 Millionen Menschen im Krieg gestorben – das sind zehn Prozent der Kriegsopfer des Zweiten Weltkriegs! Ja, Betroffenheit ist subjektiv, sie ist einseitig und unlogisch. Doch sie lässt sich nicht rationalisieren. Und statt eigene Betroffenheit wegzudiskutieren («Anderen Menschen geht es noch schlechter…») sollten wir sie lieber als Motor für unser Handeln sehen.
WWJD – Was würde Jesus tun?
Eine Weile gab es die Mode, sich ein Armband mit den Buchstaben WWJD umzubinden: «What would Jesus do? – Was würde Jesus tun?» Wenn wir darüber nachdenken, was wir in Mitteleuropa im Blick auf die Flüchtlingsströme im Süden denken und tun können, dann ist das eine gute Frage. Was würde Jesus tun? Was hat er getan? Jedenfalls hat er nicht gejammert, dass jetzt einmal andere dran wären, er hätte erst gestern so viel geholfen. Er hat Notleidende auch nie als «Problemfälle» betrachtet, sondern als Menschen auf Augenhöhe. Und er hat seine Nachfolger immer wieder dadurch überrascht, dass er jede Theologie und Vernunft für seine Barmherzigkeit beiseitegewischt hat. Während seine Jünger im Angesicht eines Blinden noch theologisch die Schuldfrage diskutieren, erklärt er den Grund der Blindheit damit, dass «die Werke Gottes (an dem Blinden) offenbar werden» sollen und heilt ihn (Johannes-Evangelium, Kapitel 9).
Bei Jesus mündet Betroffenheit in Barmherzigkeit. Das klärt nicht alle Fragen für unseren Umgang mit den Flüchtlingen aus Afrika. Und es gibt uns persönlich auch keine klaren Handlungsanweisungen. Aber Jesus zeigt uns damit eine gute Richtung für unser Denken, Reden und Tun. Auch im Blick auf die Flüchtlinge.
Zum Thema:
Das Flüchtlingsdrama: Das europäische Dilemma und die Christen
Asylanten: «Ich will sie einfach willkommen heissen»
Eigentümliche Allianz: Angelina Jolie will mit Papst Franziskus arbeiten
Datum: 22.04.2015
Autor: Hauke Burgarth
Quelle: Livenet