«Wer denkt, kommt von biblischen Motiven nicht los»
Dabei hat Leuenberger selber ein Krisenjahr sondergleichen erlebt. Amoklauf in Zug, Swissair-Grounding, Grossbrand im Gotthard-Tunnel, Crossair-Absturz, die Terroranschläge vom 11. September. Persönlich am meisten getroffen hat ihn das Attentat in Zug: «Es kamen 14 Mitglieder des Parlaments und der Regierung, die ich zum Teil persönlich gekannt hatte, ums Leben. Das Attentat auf das Parlament war auch ein Anschlag auf die Demokratie.» Weltpolitisch besonders relevant gewesen sei «Nine-Eleven». Er habe sofort geahnt, dass der Anschlag auf das World Trade Center zu einem Krieg führen könnte, sagte der alt Bundesrat.
Lernen aus der Krise
Als Politiker lerne man aus jeder Krise. Leuenberger: «Ich habe gelernt, wie wichtig die sofortige Präsenz nach einer Katastrophe ist. Das habe ich zuerst etwas vernachlässigt beim Gotthard-Brand. Ich dachte, ich stünde den Helfern nur im Weg, wenn ich auch noch komme. Doch die Betroffenen erwarten, dass sich der politisch Zuständige sofort zeigt.»
Man verändere sich als Mensch, wenn man eine Katastrophe hautnah erlebe. Es gebe «Wunden, die zwar verheilen, doch die Narben bleiben».
Krisen können auch Hass schüren
Dass Krisen zu vermehrtem Fragen nach Gott führen, relativiert der alt Bundesrat. Er erlebe in solchen Situationen auch Reaktionen mit Hass und Aggression. Doch spiele die Kirche nach einer Katastrophe «mit ihren Ritualen» eine wichtige Rolle. Als Politiker könne er sich aber nicht allein mit Spiritualität begnügen. Gegen die Angst vor dem Corona-Virus brauche es auch konkrete Massnahmen.
Er persönlich sei für die Trennung von Kirche und Staat. Leuenberger im idea-Interview: «Kirchenführer mögen zum Gebet aufrufen, aber nicht die Politiker. Sie müssen für alle im Land handeln. Und da sind viele dabei, die sich nicht mit einem Gebet begnügen wollen oder gar nicht an Gott glauben. Sie gehören auch zum Staat.»
Kirche prägt die Gesellschaft mit
Der Frage nach dem persönlichen Gebet sei er bis jetzt immer öffentlich ausgewichen. Er wolle nicht sein eigenes Verhalten als Muster für andere darstellen, so Leuenberger, der sich an Politikern stört, «die sich mit ihrem Glauben brüsten». Hingegen solle die Moral diskutiert werden. Moritz Leuenberger: «Mein Vater sagte immer, Atheismus sei Bestandteil der Theologie.» Dieses Spannungsfeld zwischen Glauben und Vernunft habe ihn schon immer sehr angesprochen.
Von biblischen Motiven könne man nicht loskommen. Sie gehörten zu unserer Kultur. Er sei Mitglied der reformierten Kirche, weil die Kirche die Gesellschaft mitpräge. Daran wolle er teilnehmen. Moritz Leuenberger: «Dabei erwarte ich, dass sich die Kirche, wenn nötig, gegen den Staat stellt und sich ihm nicht unterwirft. Die heutigen Corona-Massnahmen verunmöglichen wesentliche Aufgaben der Kirche. Die Verabschiedung der Verstorbenen ist praktisch nicht mehr möglich. Dagegen muss sie selbstbewusst Stellung nehmen. Sie muss notfalls auch ungehorsam gegenüber dem Staat sein.» Es sei Aufgabe der Kirche, anzuregen, wie wir ethische Fragen beantworten sollen. Da gebe es keine einfachen Antworten. Eine lebendige Kirche halte solche Spannungen aus. «Ja, sie pflegt sie, statt in Dogmen zu flüchten.»
Mit Glaube und Verstand
Gottvertrauen und Menschenverstand können auch in der Corona-Krise helfen, meint Moritz Leuenberger. Man könne gleichzeitig für die Maskenpflicht einstehen und Gottvertrauen predigen. Doch er mahnt: «Für mich wäre es verantwortungslos, alles auf den lieben Gott abzuschieben. Wir sind als Menschen aufgefordert, gegen Elend bei Mitmenschen vorzugehen.»
Grundlage seines ethischen Denkens sei in erster Linie die Bergpredigt. Man könne aber nicht einfach sagen, jeder Bundesrat solle die Bibel lesen, und dann wären alle Probleme gelöst. Die Welt brauche Aufklärung, eine rationale Auseinandersetzung und Mitmenschlichkeit. Leuenberger: «Eine Grundlage dazu finden wir im Neuen Testament. Es spielt bei unserer Wertediskussion eine ganz grosse Rolle. Diese Werte müssen wir in der Tagespolitik umsetzen.»
Lesen Sie das ausführliche Interview mit vielen weiteren Fragen im Wochenmagazin ideaSpektrum 2-2021.
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Datum: 19.01.2021
Autor: Andrea Vonlanthen
Quelle: idea Schweiz