Bedrängtes freikirchliches Leben auf dem Trümmerfeld
Bergkarabach, auf deutsch «Schwarzer Garten im Gebirge», ist in dieser zweiten Woche der aserbaidschanischen Grossoffensive ein einziges Trümmerfeld. Pausenlos regnet es Granaten, Bomben und Raketen auf Städte und Dörfer der armenischen Felsenfestung. Der Hauptort Stepanakert liegt schon fast ganz in Trümmern, die Menschen flüchten sich in die Ruinen und Krypten geborstener Kirchen.
Im Keller unter ihrem ausgebombten Versammlungssaal sucht auch die Pfingstgemeinde der «Revival Fire Evangelical Church» Zuflucht. Mit Pastor Levon Sardaryan beten sie um Frieden und für ihre Heimat Bergkarabach: «Obwohl sie uns unsere Treue nicht leicht macht», bemerkt der Gemeindeleiter bitter. Schon seit 2009, als der Pfingstgemeinde die staatliche Registrierung verweigert wurde, muss sie sich in der Illegalität durchschlagen. Im letzten Frühjahr hatte die Polizei ihre Sonntagsversammlung aufgelöst und vor weiteren «gesetzeswidrigen» Gottesdiensten gewarnt. Als sich die Pfingstchristen darauf in der Wohnung ihres Pfarrers zusammenfanden, wurden sie erneut von Polizisten auseinandergejagt.
«Unerlaubte Gebetstreffen»
Der Verwaltungsgerichtshof von Stepanakert verurteilte Sardaryan und zwei Gemeindemitglieder wegen «unerlaubter Gebetstreffen» zu je 1'000 armenischen Drams Geldstrafe. Das sind umgerechnet nicht einmal drei Franken, bei der in Bergkarabach herrschenden Armut jedoch eine empfindliche Summe. Nachdem sich die Pfingstchristen an Volksanwalt Harapetyan gewandt hatten, protestierte dieser unter Berufung auf die von der Verfassung garantierte Religionsfreiheit beim staatlichen Amt für nationale Minderheiten und religiöse Angelegenheiten.
Dessen Leiter Aschot Sargsyan berief sich jedoch darauf, dass nur die Zugehörigkeit zur orthodoxen «Apostolischen Armenischen Kirche» den nationalen Zusammenhalt und die Existenz des Armenier-Freistaats Arzach in Bergkarabach mitten im islamischen Aserbaidschan gewährleiste. «Als ob wir Pfingstler keine Christen wären, die jetzt gemeinsam mit den Orthodoxen unter der aserbaidschanischen Offensive leiden», klagt Pfarrer Sardaryan. «Jetzt müssen wir uns in Luftschutzkellern zusammenfinden, und keine Polizei fragt mehr nach einer Versammlungserlaubnis.»
David gegen Goliath
Aserbaidschan hat zwar nur die doppelte Fläche der Schweiz, ist aber mit seinen zehn Millionen Einwohnern ein Riese im Vergleich zur nur 4'500 km2 grossen und 140'000 Einwohner zählenden armenischen «Republik Arzach» von Bergkarabach. Sie kann nur knappe 23'000 Mann aufbieten, ihre Kampflinien sind fast nur mit Schützengräben befestigt. Da ist nun jeder Verteidiger gefragt. Auch jene Baptisten, die bei der Rekrutierung den Fahneneid aufgrund ihres Bibelverständnisses verweigert hatten und deswegen als «Deserteure» im Truppenarrest auf ihre Aburteilung warteten.
Auch als Schwurverweigerer an der Front
Jetzt dürfen, ja müssen sie auch ohne Eid kämpfen, fürs armenisch-orthodoxe Vaterland ihr Leben riskieren. Wie der junge baptistische Schwurverweigerer Armen Mirzoyan, für den sein Anwalt angesichts der ihm schlimmstenfalls drohenden Todesstrafe als Fahnenflüchtiger auf die entlastende Einstufung als «Wehrunwürdiger» plädiert hatte. Nun beten seine Mutter und Brüder um Armens Überleben an der Front von Hadrut, wo der neuen aserbaidschanischen Angriffswelle vom Mittwoch zäher Widerstand geleistet wird. Der Staat von Baku will die Christenenklave einfach «ausradieren».
Die Armenier von Bergkarabach werden seit Ende September stetig vom stehenden Heer der 70'000 Aserbaidschaner zurückgedrängt, zu dem täglich mehr von den insgesamt 300'000 mobilisierten Reservisten stossen. Dazu kommen Luftunterstützung durch türkische Kampfbomber und Tausende Freischärler, die Ankara aus dem von ihm besetzten Nordsyrien an die vorderste Karabach-Front geworfen hat. Vor diesen fürchten sich die armenischen Christen aller Bekenntnisse am meisten. Sind diese islamistischen Milizionäre der Türken doch schon für ihre Untaten in Afrin, Idlib und anderswo berüchtigt.
Nichteinmischungskurs des offiziellen Armenien
Das offizielle Armenien hingegen hält sich militärisch ebenso zurück, wie es seit 1994 die Verwandlung von Bakus autonomem Armeniergebiet Karabach in eine selbsterklärte «Republik Arzach» nie anerkannt hat. Beobachter in Jerewan stellen sich aber zunehmend die Frage, ob Regierungschef Nikol Paschinjan diesen Nichteinmischungskurs durchhalten kann, wenn die Armenier von Karabach militärisch noch weiter ins Hintertreffen geraten. Nachdem er bereits von einer «Schicksalsstunde für das ganze armenische Volk» und nicht nur für Bergkarabach gesprochen hat, wird es für ihn politisch immer schwerer, den bedrängten Verteidigern von Stepanakert nicht zu Hilfe zu kommen.
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Datum: 07.10.2020
Autor: Heinz Gstrein / Fritz Imhof
Quelle: Livenet