Georgien: «Tote landen oft auf dem Trottoir»
die
georgische Flagge zählt fünf Kreuze und zeugt so weltweit am stärksten von der
christlichen Orientierung des Landes. Weshalb engagiert sich die
Osteuropamission in Georgien?
Eelco de Boer: Knapp vier Prozent
der Menschen in Georgien gehören anderen christlichen Konfessionen als der
Orthodoxen Kirche an. Diese besitzt in Georgien viel Macht. In den 90er-Jahren
habe ich die Gewalt und Brutalität ultra-orthodoxer Kräfte selbst miterlebt.
Ich war Gastredner in einer evangelischen Kirche, als während des
Gottesdienstes plötzlich die Fenster barsten und grosse Pflastersteine um
unsere Köpfe flogen. «Vater» Basil
Malakaschwili, Anführer einer ultra-orthodoxen Gruppierung, hatte mittels
eigener TV-Station dazu aufgerufen, evangelische Christen zu terrorisieren.
Seine Anhänger drangen auch in Kirchen ein, entwendeten Bibeln und Gesangsbücher
und verbrannten sie öffentlich. Der ehemalige, westlich orientierte Präsident,
Micheil Saakaschwili (2004–2012), setzte diesem Machtmissbrauch sowie der
Korruption im Land zwar ein Ende, trotzdem werden protestantische Gemeinden in
Georgien noch immer als Sekte betrachtet und angefeindet. Mit dem Zerfall der
Sowjetunion und der einhergehenden Inflation verloren viele, insbesondere
ältere Menschen, in Georgien ihr Vermögen und verarmten völlig. Als
Nicht-EU-Mitglied erhält Georgien keine Fördergelder. Deshalb unterstützen wir
die Notleidenden.
Wie
sieht die Arbeit der Osteuropamission in Georgien aus?
Wie in allen Ländern, in denen
wir tätig sind, laufen die Projekte auch in Georgien unter der Regie der
lokalen Mitarbeitenden. Oft sind dies Pastorenehepaare und Diakone von
Kirchgemeinden. Wir als OEM Schweiz versorgen sie mit Geld- und Sachspenden.
Auch organisieren wir Patenschaften für Kinder und deren mittellose Familien.
Und für Senioren! Sie liegen unserem Pastorenehepaar Vitali und Larissa Ivanov
besonders am Herzen. Noch immer treffen sie auf verwahrloste alte Menschen, die
halbverhungert in kalten Kellerlöchern oder zwischen Kartonschachteln hausen.
Regelmässig schauen Larissa und Vitali bei ihnen vorbei und versorgen sie mit
kleinen Öfen und Lebensmitteln. Wer Glück hat, findet gar ein Plätzchen in
ihrem «Haus der Wohltätigkeit». Vor 13 Jahren konnten Larissa und Vitali das
dreistöckige Gebäude in Tiflis dank Schweizer Finanzierung erwerben und zu
einem Heim für Senioren umbauen.
Was bewegt Sie, wenn
Sie auf Ihre Arbeit in Georgien blicken?
Es erschüttert mich, wie dort
mit alten Menschen umgegangen wird. Oftmals werden sie aufgrund der Armut in
der Familie von ihren eigenen Kindern verstossen und können von ihrer mickrigen
Rente nicht leben. Man empfindet sie als Last. Viele Ärzte behandeln nicht
gerne alte Menschen. Sie sagen, es lohne sich nicht, da diese ja eh bald
sterben würden Und wenn das dann geschieht, werden die
Leichen oft aufs Trottoir gelegt, weil das Geld für einen Sarg und die
Beerdigung fehlt. Mich berührt es sehr, wie unser Pastorenpaar Ivanov sich für
die alten, kranken und armen Menschen in Georgien einsetzt. Lange bevor das «Haus
der Wohltätigkeit» eröffnet wurde, hatten sie schon Senioren bei sich zuhause
aufgenommen, um ihnen Bett, Bad und Brot zu bieten. Durch die praktische Hilfe
und den respektvollen Umgang werden die Menschen auch neugierig und fragen
unsere Mitarbeitenden nach deren Motivation. Dann ist die Tür offen, um konkret
von Gottes Liebe zu erzählen und von der Hoffnung, die er schenkt.
Erzählen Sie von
jemandem, dessen Leben durch Ihre Arbeit verändert wurde.
Da greife ich gerne auf einen
Bericht von Larissa zurück. Sie erzählte uns Sergeis Geschichte: «Sergei musste
wegen des Krieges aus der georgischen Provinz Abchasien fliehen und lebte viele
Jahre in Russland. Als er alle seine Papiere verlor, kehrte er nach Georgien
zurück und landete in einem Zeltlager für Obdachlose. Dort erlitt Sergei einen
Herzinfarkt, verbrachte tagelang auf seiner Matte und konnte nicht mehr
aufstehen. Zu allem Elend kam ihm auch noch sein Handy abhanden. Dadurch verlor
er den Kontakt zu seinen Verwandten in Moskau, die ihn bisher finanziell
unterstützt hatten. Freundliche Menschen brachten ihn in unser Haus. Als er mir
Familienfotos zeigte, fand ich zwischen anderen Papieren die Telefonnummern
seiner Verwandten und konnte einen Neffen ausfindig machen. Die beiden trafen
sich persönlich und blieben danach über Skype verbunden. In den letzten Wochen
seines Lebens erfuhr Sergei viel Wertschätzung, die ihm seine Menschenwürde
zurückgab. Auch konnten wir mit ihm über das ewige Leben und das Himmelreich
sprechen. Dafür brennt unser Herz.»
Was
können wir im deutschsprachigen Europa tun?
Viele Menschen wissen über
dieses Elend, das gut zwei Flugstunden von unserer Haustüre entfernt herrscht,
gar nicht Bescheid. Ich wünsche mir, dass wir uns besser informieren und bereit
sind, von unserem Überfluss abzugeben. Notleidenden zu helfen, schenkt Freude
und macht uns dankbarer und zufriedener.
Über Georgien:
Georgien
ist ein Schmelztiegel zwischen Okzident und Orient und zählt 3,7 Millionen
Einwohner. Seit dem Zerfall der Sowjetunion 1991 ist es unabhängig. Doch die
Menschen sind von politischen Wirren, Kriegen, wirtschaftlichen Krisen, Flucht
und Verfolgung gezeichnet. Viele leben in bitterer Armut. 2008 waren im
Kaukasus wieder Kämpfe ausgebrochen, die sich zu einem Krieg zwischen Russland
und Georgien ausweiteten. Er kostete Tausende von Menschen das Leben und trieb
Hunderttausende in die Flucht. Auslöser waren die Konflikte in den von der
einstigen Sowjetunion abgespaltenen Provinzen Südossetien und Abchasien, die
sich geografisch in Georgien befinden.
Zur Webseite:
Osteuropamission Schweiz
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Datum: 19.11.2018
Autor: Manuela Herzog / Daniel Gerber
Quelle: Livenet