Ist Nietzsches Kritik am Christentum berechtigt?
Mindestens vier Dinge kritisierte Prof. Friedrich Nietzsche am Christentum: dass (1.) Schwachheit anstatt Selbstverwirklichung zum Ideal erhoben werde; dass man (2.) durch Mitleid die Übel in der Welt vermehre, anstatt sie zu lösen; dass (3.) Gott vom Menschen eine Art zu Leben fordere, die gar nicht möglich sei; und (4.) die Leute dadurch unzufrieden und griesgrämig werden.
Doch er verwarf nicht nur das Christentum, sondern ziemlich jede organisierte Form des Lebens, insbesondere Sozialismus, Kapitalismus und Nationalismus. Er wollte die Menschheit von jeder Knechtschaft befreien, denn man soll nicht sein Leben lang sozusagen auf der Stufe des Kamels bleiben, und die Lasten anderer tragen. Der Mensch soll vielmehr wie ein Löwe werden, der alles um sich herum zerreisst, um dann seine Bestimmung auf der Stufe des Kindes zu finden.
Selbstverwirklichung als Befreiung
Es mag erstaunen, dass er das Ziel des Menschen nicht in der Reife, sondern auf der Stufe von Kindern sieht. Was ihn fasziniert, ist die kindliche Fähigkeit, in seiner eigenen Welt zu leben. Beim Spielen verwirklichen Kinder sich quasi selber, und vergessen alle anderen um sich herum.
Die Selbstverwirklichung des Menschen war es, was Nietzsche proklamierte. Darum begeisterte ihn insbesondere das Zeitalter der Renaissance. Dort sei die grosse Befreiung des Menschen geschehen, so dass man in allen Künsten Fortschritte machen konnte, im Gegensatz zur mittelalterlichen Prüderie. Dort, in der Befreiung vom Christentum, sei der Mensch sich selber geworden. Doch eigenartigerweise bemerkte er nicht, dass sich die Renaissance keineswegs als antichristliche Bewegung verstand, sondern vielmehr nur dank der Kirche überhaupt möglich war. Bis heute finden sich viele der grossen Renaissance-Kunstwerke nicht ohne Grund ausgerechnet in Kirchen und im Vatikan.
Erschrocken sind viele über Nietzsches Frauenbild. Die Ehe beschreibt er als Herrschaft des Mannes über die Frau, und mehr oder weniger als notwendiges Übel zur Zeugung von Kindern. Kein Wunder, dass er selbst nie heiratete. Alle seine Liebschaften sind gescheitert. Er liess es nicht zu, dass jemand ihn an seiner Selbstverwirklichung hindere.
Vereinsamter Narzist
Im Bereich der Philologie war Nietzsche genial. Aber der Inhalt seiner Schriften zeugt von einem Narzissten, der nach Gründen sucht, um nach allen Seiten Vorwürfe auszuteilen, und sich selber auf das Podest zu setzen. Ein Kind wollte er sein. Kinder können sehr liebenswürdig, aber auch sehr egoistisch und trotzig sein. Sie sehen die Welt nicht, wie sie ist, sondern extrem subjektiv. Ganz anders als reife Menschen geraten sie leicht in Gefahr und benötigen Schutz, den sie normalerweise auch suchen.
Aber gerade diesen Schutz verweigerte Nietzsche, auch wenn er die Gefahr durchaus realisierte. Er wollte weg von allem, was ihn einengen könnte, auch wenn es bedeutete, einsam zu sein, und er sich zugegebenermassen dabei überforderte. «Gott ist tot», ruft er trotzig. «Wir haben ihn getötet, – ihr und ich! Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder? Das Heiligste und Mächtigste, was die Welt bisher besass, ist unter unseren Messern verblutet, wer wischt dieses Blut von uns ab?… Ist nicht die Grösse dieser Tat zu gross für uns?» Doch anstatt umzukehren, geht er sogar noch einen Schritt weiter: «Müssen wir nicht selber zu Göttern werden?»
Mehr und mehr wird er sich des Wahnsinns seines Unternehmens bewusst. In seinem berühmten Gedicht «vereinsamt» nennt er sich sogar selber einen «Narr», der aus der Wärme der heimatlichen Stadt in die winterliche Kälte entfloh. Neidischen Blicks schaut er zu den Krähen, die in der Stadt Zuflucht nehmen können. «Wohl dem, der jetzt noch Heimat hat.» Und noch einmal: «Versteck du Narr, dein blutend Herz in Eis und Hohn!»
Doch umkehren will er auch jetzt nicht. Ganz im Gegenteil: «Wer das verlor, was du verlorst, macht nirgends halt.» Höhnisch sagt er: «Der meint, ich sehne mich zurück.»
10 Jahre lang im Wahnsinn
Wer sich wirklich selber verwirklichen wolle, müsse alle Fäden abschneiden, koste es, was es wolle. Überraschenderweise findet sich allerdings beim Atheisten Nietzsche religiöses Vokabular. Sozialismus und Kapitalismus seien «Götzen», behauptet er. Götzen, die vom wahren Gott ablenken: dem eigenen ich. Sein Ideal war der sogenannte Übermensch, der von niemandem und nichts abhängig, einsam und leidend als Gott seinen eigenen Weg geht, sogar dann, wenn es bedeutet, unterwegs auch andere zu zertreten. So nennt sich Nietzsche stolz «Antichrist», weil er das Gegenteil von Jesus tut.
Ist es Zufall, dass Nietzsche die letzten zehn Jahre seines Lebens im Wahnsinn verbrachte? Vielfach wird die Schuld dafür einer Syphiliserkrankung zugeschrieben. Tatsächlich litt er an Geschlechtskrankheiten. Auch dies eine Folge seiner Lebenseinstellung, denn er hatte ja die «christliche Triebfeindlichkeit» verworfen.
Allerdings ist es nicht erwiesen, dass die Syphilis der Grund für seine Umnachtung war. Es dürfte sich sehr wohl auch um eine direkte Folge seiner Philosophie handeln, an deren Folgen er ja gemäss seinen eigenen Worten unerträglich litt.
Folgen des Atheismus
Wie jede Kritik von Narzissten ist auch diejenige Nietzsches keinesfalls ernst zu nehmen. Sein Leben beinhaltet vielmehr eine grosse Warnung: Echter Atheismus ist nicht ohne. Er führt zu Narzissmus, Vereinsamung und Leiden, wenn nicht sogar Wahnsinn, und konfrontiert in letzter Konsequenz mit allen Werten der Aufklärung, welche keine Übermenschen, sondern Gleichwertigkeit proklamierte.
Nietzsche ist tot. Gott lebt immer noch. Der Wert der christlichen Gesinnung zeigt sich gerade in Nietzsches letzten Lebensjahren. Seine Mutter pflegte den Kranken aufopfernd und betend, etwas, was sie gemäss seiner Lehre nicht hätte tun sollen, denn er verachtete ja die Aufopferung der Menschen für andere.
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Datum: 25.05.2023
Autor:
Kurt Beutler
Quelle:
Livenet