Psychische Störungen

Jeder kann Helfer sein

Immer mehr Menschen leiden an psychischen Störungen. Sie müssen damit leben. Wie und wo können ihnen Mitmenschen helfen? Dr. med. Manuela Wälchli, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, weiss dazu Antworten.
Frau auf Steg

Fritz Imhof: Frau Wälchli, leiden heute mehr Menschen an psychischen Störungen als vor 30 Jahren?
Manuela Wälchli: Wenn man die Anzahl der niedergelassenen psychiatrisch geschulten Fachpersonen pro Einwohnerzahl von heute mit früher vergleicht und dabei auch die durchschnittlich sinkende Aufenthaltsdauer von Patienten in psychiatrischen Kliniken – bei andauernd ausgelasteter Bettenbelegung – berücksichtigt, muss man diese Frage sicher mit Ja beantworten. Dabei bleibt natürlich immer noch unberücksichtigt, wie viele psychisch leidende Menschen früher ihre Not versteckt hielten. Denn der Gang zum Psychiater oder gar die Einweisung in eine psychiatrische Klinik bedeutete früher eine gesellschaftliche Stigmatisierung, die man tunlichst vermied. Heute hat sich die Stimmung verändert: Im Bewusstsein der Bevölkerung gibt es viel mehr Offenheit und Raum für die Realität psychischer Leiden.

Was sind denn die Ursachen für diese Zunahme psychischer Leiden?
Neben der erfreulichen Entwicklung, dass man psychisch Leidende nicht mehr ausgrenzt, ist unsere Gesellschaft auch zur Quelle und zum Verstärker von psychischem Leiden geworden. Der steigende Leistungsdruck am Arbeitsplatz, die Anonymität des vom Individualismus geprägten Lebens, die Fokussierung auf die Profitoptimierung ohne Berücksichtigung der sozialen und psychischen Folgen für den Einzelnen sind belastend. Dazu kommt der Mangel an Orientierungsmöglichkeit in einer Welt der Wertneutralität und die Überforderung durch ein fast unendliches Angebot an Wahlmöglichkeiten. Die Liste liesse sich fortsetzen – die raschen Veränderungen in unserer Gesellschaft verlangen jedenfalls vom heutigen Menschen ein hohes Mass an Bewältigungsstrategien. Immer öfter werden Menschen durch das Zusammentreffen von mehreren Belastungsfaktoren über ihre psychischen Kräfte hinaus gefordert, und das äussert sich in Krankheitssymptomen.

Welche psychischen Leiden treffen Sie selbst am meisten an?
In meiner derzeitigen Tätigkeit auf der Akutstation in Brig begegne ich Menschen mit den verschiedensten psychischen Grunderkrankungen. Den grössten Anteil machen dabei die depressiv Erkrankten aus. Mehr und mehr sind es Menschen, die unter den vielfältigen realen Belastungen des täglichen Lebens krank werden, und Menschen, die für sich in unserer Gesellschaft weder Orientierung noch Sinn für ihr Leben finden können. Immer öfter begegne ich auch jungen Frauen mit Essstörungen und Menschen mit Abhängigkeiten von unterschiedlichsten Suchtmitteln.

Wie hilft die moderne Psychiatrie diesen Menschen?
Heute wird in der Psychiatrie mehrheitlich mit Konzepten gearbeitet, die Erkenntnisse verschiedener Schulen berücksichtigen. Im Sinne einer bio-psycho-sozialen Betrachtungsweise des Menschen werden Elemente aus der biologischen Psychiatrie mit unterschiedlichen psychotherapeutischen Verfahren kombiniert. Die Berücksichtigung des sozialen Umfelds mit dem Einbezug von Angehörigen und Bezugspersonen ist immer wichtiger geworden. Ausserdem darf die fachübergreifende Zusammenarbeit mit andern sozialen Berufsgruppen in einem modernen Behandlungskonzept nicht fehlen.

Wie kann man psychisch leidenden Menschen als Laie helfen?
Unschätzbar wertvoll sind Mitmenschen, die sich nicht scheuen, mit psychisch Kranken in Kontakt zu treten, Menschen, die es wagen, die Hemmschwelle zum Unbekannten und die Angst vor dem falschen Verhalten zu überwinden und die Begegnung mit den Leidenden zu suchen. Oft ist das Wertvolle denkbar banal: Eine Einladung zu einer Tasse Tee ermöglicht das persönliche Gespräch. Dabei hören wir der leidenden Person zu, ohne ihre Aussagen zu werten. Andere sind dankbar für praktische Handreichungen bei der Alltagsbewältigung. Der Kreativität sind hier keine Grenzen gesetzt.

Was kann solchen Menschen in ihrem Alltag helfen, mit ihrem Leiden zu leben?
Es ist nicht einfach, diese Frage generell zu beantworten. Dazu müsste der weit gefasste Begriff der «psychischen Störungen» differenziert werden. Grundsätzlich kann man sagen: Ziel allen psychiatrisch-psychotherapeutischen Handelns ist die Erhöhung der Lebensqualität für den Patienten. Ob diese mit der Annahme von krankheitsbedingt gesetzten Grenzen zu erreichen ist, oder ob es eher darum geht, mit der Patientin vermeintliche Schranken zu sprengen, hängt sehr von Art der Erkrankung und von der Persönlichkeit der Betroffenen ab.

Im Weiteren hilft psychisch kranken Menschen dasselbe, was auch den Gesunden gut tut: Leben und Erleben mit andern teilen, und nicht allein bleiben mit dem, was sie beschäftigt. Eine angepasste regelmässige Tätigkeit, vielleicht die Unterstützung von Menschen, die es nicht materiell vergelten können, lenkt von der eigenen Not ab und kann auch sinnstiftend sein.

Wie können Christen psychisch Leidenden helfen, die noch nicht Christen sind?
Der Auftrag von Jesus, Menschen in der Haltung zu begegnen, die er uns vorgelebt hat – gilt allen für alle, ungeachtet ihres religiösen Hintergrunds. Damit geben wir Menschen Raum zur Menschlichkeit – was unsere Gesellschaft ja besonders nötig hat. Ein Christ, der aus seiner Gottesbeziehung heraus lebt, verkörpert für seinen Mitmenschen ein Stück der Liebe Gottes und bringt ihn damit Gott näher.

Können Sie uns dazu ein konkretes Beispiel geben?
Ich denke an eine jüngere Frau, die ich durch eine schwere Depression nach einem sexuellen Übergriff begleitete. Nach längerer Zeit fragte sie mich, wie es mir gelinge, mit ihr diesen Weg zu gehen, Schwieriges auszuhalten und ihr Leben schrittweise zu gestalten. Sie wollte wissen, woher ich Kraft hole, wo ich Trost erhielte, woher meine Gelassenheit komme. Ich liess sie ein Stück in meine Beziehung zu Gott hineinsehen. Dieses einmalige Gespräch über meine Gottesbeziehung wurde für sie zum Modell, sich tastend in einen Dialog mit Gott zu wagen, und ich stellte im Verlauf fest, wie daraus eine tragende Beziehung zu Gott wuchs.

Was muss in jedem Fall vermieden werden, auch wenn es noch so gut gemeint ist?
Ratschläge sind oft Schläge und tun in aller Regel weh, ohne dass sie für den Betroffenen neue Erkenntnisse bieten würden. Besser ist, Betroffenen die Kontaktbereitschaft zu signalisieren und Begegnungen auf Augenhöhe zu wagen. So entsteht Raum für das gegenseitige Verstehen lernen.

Die Bibel kann mit ihren teils provokativen Aussagen viele dazu verleiten, sie als Rezeptbuch zur Heilung von psychisch Leidenden anzuwenden. Allzuoft erweist sich dieses Mittel aber als Misserfolg und kann sogar Schaden stiften. Denn so auferlegen wir leidenden Menschen zusätzlich zu ihrer Not noch die Last eines Glaubens, der die Glaubensleistung über die Gnade setzt.

Manuela Wälchli studierte Medizin in Bern und liess sich zur Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie in Basel und Brig ausbilden. Sie engagiert sich auch in der Ausbildungsleitung von «bcb – Bildungszentrum für christliche Begleitung und Beratung».

Datum: 13.01.2006
Autor: Fritz Imhof
Quelle: Bausteine/VBG

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