Kämpfer für ein besseres Pakistan
Im Oktober will Joseph Francis Gespräche mit Anwälten führen und dann mit ihnen beim Obersten Gericht des Landes für die Aufhebung des gesamten Artikels 295 des pakistanischen Strafgesetzbuchs eintreten. Dabei weiss er: «Mein Leben ist in Gefahr, wenn wir die Aufhebung beantragen.» Alle Minderheiten im unruhigsten, von Fanatikern geplagten Staat Südasiens würden es ihm danken, könnten die Schreckensparagrafen abgeschafft werden.
Obwohl kaum je Menschen der Verbrechen wirklich schuldig gesprochen werden, die Paragrafen also nicht praktikabel sind, haben sie schon Leid über viele tausend Familien gebracht. Denn wer in Pakistan in den Ruch der Blasphemie gerät, kann seines Lebens nicht mehr sicher sein; islamische Fanatiker wollen die Ehre Allahs wiederherstellen, indem sie selbst zur Waffe greifen. Es braucht nicht mehr als eine simple, böse Verleumdung, um eine Familie in den Ruin zu treiben.
Verbreitet: häusliche Gewalt
Francis leitet die Hilfsorganisation CLAAS, das «Centre for Legal Aid, Assistance and Settlement» mit Sitz in der Millionenstadt Lahore. Es bietet seit bald 20 Jahren bedrängten und bedrohten Menschen Rechtsbeistand, Hilfe und – wenn sie ihr Zuhause verloren haben – auch Unterschlupf und Rehabilitation. «Besonders helfen wir Opfern von Blasphemieklagen, Vergewaltigung, häuslicher Gewalt, Zwangskonversion und Folter durch die Polizei.» Laut Prospekt haben bisher über 52.000 Opfer und Diskriminierte Dienste von CLAAS in Anspruch genommen.
Tödliche Waffe bei Neid und Groll
Das Blasphemiegesetz stellt laut dem Menschenrechtler nicht nur für Christen eine Gefahr dar, sondern für die gesamte Bevölkerung des Landes. Neid und Groll gegen Mitmenschen sind die Motive, sie der Lästerung Allahs (295A), der Schändung des Koran (295B) oder abschätziger Bemerkungen über Mohammed (295C) zu bezichtigen. Nicht nur Menschen andern Glaubens, sondern auch Nachbarn werden angeklagt.
Der Militärdiktator Zia ul-Haq hatte die Strafrechtsartikel 1986 ins Parlament eingebracht. Wie Joseph Francis berichtet, gab es schon 1869, unter britischer Kolonialherrschaft, eine Strafbestimmung mit einer Höchststrafe von zwei Jahren. 1927, nach der Ermordung eines Hindu durch Muslime, hätten die Briten den Artikel ergänzt. Bis 1986 wurden nur neun Fälle unter Artikel 295A verzeichnet. Seither gab es eine Lawine von Anklagen: bis 2008 468 Anklagen gegen Muslime, 489 gegen Ahmadis (grosse islamische Sekte pakistanischen Ursprungs mit mehreren Millionen Anhängern im Land), über 200 gegen Christen und fünf gegen Hindus. Wer unter 295B schuldig gesprochen wird, muss mit lebenslanger Haft rechnen, bei 295C mit der Todesstrafe.
Lawine von Anklagen
2009 und 2010 haben sich laut Francis die Anklagen gehäuft: Allein 2009 nahm CLAAS 16 Fälle von Christen an; andere Organisationen hatten sich mit weiteren Anklagen zu befassen. Insgesamt hat CLAAS seit 1992 80 Blasphemie-Fälle bearbeitet. Die Obergerichte und das Oberste Gericht des Landes, die nach dem Strafgesetzbuch urteilen, sprachen alle angeklagten Christen frei, sagt Francis. Die Verfassung gibt allen Bürgern Pakistans gleiche Rechte «aber dem Buchstaben wird derzeit nicht Nachachtung verschafft». Artikel 2 nennt den Islam als Staatsreligion. (Infolge der Einführung der Scharia durch Zia ul-Haq gibt es daneben islamische Gerichte, die straf- und familienrechtliche Fälle beurteilen, etwa Vergewaltigung, Adoption und Sodomie.)
Medien und Justiz im Visier der Fanatiker
Die englischsprachigen Medien, die von der Oberschichte und ausländischen Diplomaten gelesen werden, berichten akkurat über die Fälle, aber die Zeitungen in der Nationalsprache Urdu – mit viel grösseren Auflagen – verdrehen Dinge und kolportieren verleumderische Anklagen. In dieser aufgeladenen Atmosphäre hat es die Justiz nicht leicht. Doch die Oberrichter des Staats, die unter dem Druck der Strasse stehen, beurteilen Blasphemieklagen in vielen Fällen fair, sagt Francis – obwohl er auch bei manchen Richtern Vorurteile feststellt. So wird nicht selten die Freilassung auf Kaution verweigert, obwohl die Anklage haltlos ist. Bis zum Prozess vergehen Jahre; ist der Ernährer die ganze Zeit in Haft, droht der Familie der Ruin.
Auf dem Land sind die Christen arm. Erwachsene und Kinder arbeiten für muslimische Landbesitzer und Geschäftsleute. Kommt es zu Konflikten oder ist der Chef unzufrieden, werden Christen manchmal verleumdet. Dies geschieht auch, wenn jemand nach ihrem (kleinen) Besitz giert oder wenn Gewalt gegen ein Mädchen kaschiert werden soll.
Verleumdete verlieren (fast) alles
Tragisch ist, dass die Angeklagten regelmässig aus ihrem Wohnort fliehen müssen und damit auch die Arbeit verlieren. CLAAS kann ihnen zwar Unterkunft in einer anderen Stadt anbieten, aber in die Öffentlichkeit gehen und auswärts Arbeit annehmen können sie sich nicht mehr – Fanatiker würden es als ehrenhaft ansehen, sie zu ermorden. Dasselbe Schicksal trifft aber auch Muslime: Auch sie sind, wo man sie kennt, am Leben bedroht.
Francis lebt gefährlich, muss sich zwischenzeitlich verstecken. «So viele Leute werden getötet – einige sogar im Gerichtssaal. Ein Richter, der 1995 zwei Christen freigesprochen hatte, wurde zwei Jahre später erschossen. 35 Gläubige wurden im Gefängnis, in Polizeigewahrsam oder im Gerichtsgebäude umgebracht.» Erst am 19. Juli 2010, berichtet Francis, wurden zwei Pastoren, wegen Lästerung angeklagt, im Gerichtsgebäude von Faisalabad erschossen.
Am Rand des Chaos
Der berüchtigte Strafrechtsartikel lenkt nur ab von Vergehen, die bestraft gehören – und aktuell in Pakistan zu selten sanktioniert werden. «Der pakistanische Staat schafft es nicht, dem Gesetz Nachachtung zu verschaffen», sagt Francis. Auch die Provinzregierungen seien machtlos gegen die extremistischen Umtriebe. «Im Machtkampf der beiden grossen Parteien sind zahlreiche islamistische Bewegungen aufgekommen, die das Land destabilisieren. Die verheerenden Überschwemmungen haben die Situation weiter verschlimmert.»
Joseph Francis bittet um Fürbitte für sich und die Anwälte, um moralische und finanzielle Unterstützung. Er regt an, Briefe zu seiner Unterstützung zu senden an den pakistanischen Premierminister Jusuf Gilani, an die Obersten Richter und die Oberrichter von Lahore.
Datum: 01.10.2010
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet.ch