Lieben heisst sich fallen lassen
Im Laufe der Jahre bekomme ich immer mehr den Eindruck, dass die Kunst, einen Menschen zu lieben – und auf Dauer in ihn verliebt zu bleiben – die Kunst ist, ihn nicht zu sehr an sich zu ketten. Es ist etwas Eigensinniges um die Liebe: Sobald ich sie gar zu intensiv suche, wirke ich ihrem Wesen entgegen und versperre ihr den Weg. Die englische Übersetzung von «sich verlieben» lautet «falling in love» – wörtlich: «in die Liebe hineinfallen». Das ist ein unerhört schönes Bild, aber auch eines, das Lebensgefahr signalisiert.
Der Liebende, der beschliesst, diese Liebe dem geliebten Menschen zu offenbaren, geht in diesem Augenblick ein Lebenswagnis ein. Er stürzt gleichsam in freiem Fall auf den Geliebten zu. Und das Einzige, was ihn hier retten kann, ist, dass er von dem Sprungtuch der Gegenliebe aufgefangen wird. Das ist das Risiko der Liebe. Und ihre Chance.
Das Recht, innezuhalten
Eine der schönsten Liebesgeschichten der Weltliteratur ist das fast dreitausend Jahre alte Hohelied (oder Lied der Lieder) in der Bibel. In ihm finden wir eine rührend schöne Szene: Die beiden Liebenden sind in ihrem Versteck zusammen, und die Braut ist auf dem Arm des Bräutigams eingeschlummert. Die beiden begehren nichts voneinander, erwarten nichts. So, wie es ist, ist es gut; sie sind zusammen, und das genügt. Diese Ruheszene malt ein Bild davon, wie die Liebe wächst, hier ausgedrückt durch die Worte: «Weckt die Liebe nicht und scheucht sie nicht auf, bis es ihr selber gefällt!» (Hoheslied, Kapitel 8, Vers 4 NeÜ).
Ich glaube, dass eines der grössten Geschenke, dass man dem Menschen, den man liebt, machen kann, die Ruhe ist – das Recht, stehenzubleiben und innezuhalten, nicht immer auf Kommando mitzugehen. Augenblicke und Tage der Freiheit von Ansprüchen. In einer engen Beziehung kann eine kleine, unerwartete Geste, die Druck von dem anderen wegnimmt, weitaus willkommener sein als ein Blumenstrauss.
Schöpfungswunder
Stress und Druck sind Feinde der Liebe, und wenn man das Leben zu schnell werden lässt, wächst das Risiko, dass man unbewusst Unkraut auf den Liebesacker sät. Wo wir die Liebe unter Stress setzen – durch die Erwartung, dass die Beziehung pausenlos spitzenmässig zu sein hat – stellt sich bald Erschöpfung ein. Dann freuen wir uns nicht mehr an den Blumen am Wegrand, sondern zertreten sie. Auf solchen Durststrecken kann es manchmal notwendig sein, dass man sich anschaut und sagt: «Du, es könnte vielleicht spannender und interessanter sein mit uns beiden, aber im Augenblick ist es, wie es ist, und das ist in Ordnung.» Das kann nach Resignation klingen, aber wo wir uns diese Ruhepausen gönnen, kommt es nicht selten zu einer Art Schöpfungswunder: Die Liebe erwacht wieder zum Leben – die Liebe, die die ganze Zeit da war, aber begraben unter einem Berg der Müdigkeit und Erschöpfung.
Ich glaube, dass das Ausruhen das Versteck der Liebe ist, aber auch ihre Kraftquelle. Wo wir unrealistische Erwartungen fahren lassen, bekommt alles Mögliche andere eine Chance, emporzuwachsen. Zum Beispiel Zärtlichkeit, Überraschungen und Verspieltheit. Lieben heisst fallen, aber es reicht nicht aus, dass man vor langer, langer Zeit einmal einander in die Arme fiel, sondern wir müssen dies immer wieder tun. Seite an Seite den Weg gehen, mit realistischen Erwartungen und genügend Raum zum Luftholen. In unserem Alltag Ruhezonen der Anspruchslosigkeit schaffen und der Liebe eine Chance geben, zu kommen, wenn es ihr selber gefällt.
Schluss mit den Anstrengungen
In unserem Alltag lassen wir uns leicht einreden, dass man nur das kriegt, was man sich nimmt, und folglich nur das hat, was man selber erworben hat. Man muss nicht lange nachdenken, um einzusehen, dass vieles von dem wirklich Wichtigen in unserem Leben nicht durch unsere Anstrengungen, sondern wie von selber zu uns gekommen ist – vielleicht sogar das Meiste und Beste.
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Datum: 23.04.2024
Autor:
Tomas Sjödin
Quelle:
Magazin Aufatmen, SCM Bundes-Verlag