Muss das Alter neu erfunden werden?
Die Reformierte Landeskirche Aargau hatte zu dieser interdisziplinären Tagung in das Kultur- und Kongresshaus Aarau eingeladen. Soziologen, Theologen, Medienschaffende und leitende Mitarbeiter von Altersdiensten waren vertreten. Sie alle ringen um den Begriff des Alters.
Noch vor zwei Generationen war klar, dass man mit der Pensionierung ins Lager der Senioren rutschte. Heute sehen wir zwei widersprüchliche Entwicklungen, wurde an dem Kongress deutlich. Wenn zu einem «Seniorennachmittag» eingeladen wird, fühlen sich 70-Jährige davon nicht mehr ohne weiteres angesprochen. In der Arbeitswelt dagegen gehören oft schon 45-Jährige zu den Alten.
70 Jahre jung
Beim Podiumsgespräch am Eröffnungsabend bestätigten dies der Soziologieprofessor François Höpflinger (62) und der Unternehmer und Wirtschaftswissenschafter Hans-Peter Zehnder (56). «Es gibt immer mehr 70-jährige Pubertierende», ergänzte Höpflinger mit einem Schmunzeln.
Das Schöne daran: Viele alte Menschen können ihr Leben auch 20-30 Jahre nach der Pensionierung noch frei gestalten. Als Freiwillige leisten sie für die Gesellschaft und die landes- und freikirchlichen Gemeinden viele Beiträge. «In Kirchgemeinden fühlen sich viele bis 85 motiviert, den ‚alten Menschen’ zu helfen», sagte Höpflinger. «Die Kirchen sind auf die älteren Freiwilligen angewiesen», bestätigte die Aargauer Kirchenratspräsidentin Claudia Bandixen.
Das zweifache Alter
Man unterteilt die 3. Lebensphase Alter in zwei Unterabschnitte. Zum ersten Abschnitt gehören diejenigen, die noch selbständig wohnen und vielerlei Aktivitäten pflegen; man spricht von den «jungen Alten». Wenn alte Menschen aber ihre Selbständigkeit verlieren und ständige Hilfe brauchen, ordnet man sie dem zweiten Abschnitt zu.
Es gebe aber Menschen, die noch mit 95 Jahren selbständig leben und sich daher zu den «jungen Alten» zählen, erwähnte beiläufig der Zürcher Professor für Praktische Theologie, Ralph Kunz. Mehrmals fiel auch der Begriff der «Best-Ager», zu denen sich die «Babyboomer» aus der Nachkriegszeit zählten. Die hätten ganz neue Erwartungen an ihre Jahre nach der Pensionierung.
Alte Menschen – ein Problem?
Menschen, die hohe Krankheits- und Pflegekosten verursachen, würden heute in der politischen Diskussion als Problem gehandelt, bedauerte Kirchenratspräsidentin Claudia Bandixen. Dabei vergesse man, dass diese Menschen in ihrem Leben grosse Leistungen für die Gesellschaft erbracht hätten. «Wenn ein Kind zur Welt kommt, ist es schutzlos und hilflos – und wir sind entzückt», stellte die Mutter von drei Kindern fest. «Wenn aber ein alter Mensch in dieser Lage ist, schauen wir lieber weg.»
Die Präsidentin stellte daher dezidiert fest: «Auch Schwachheit ist Ausdruck von Leben!» Die Aargauer Regierungsrätin Susanne Hochuli stellte in ihrem Grusswort fest: «Lassen wir uns nicht von den Defekten des Alters, sondern von seinen Potenzialen leiten. Tauchen wir nicht in sein Elend, sondern in seinen Glanz ein.»
Ist Vergessen-Können schlecht?
Auch der Ökonom und Soziologe und ehemalige Professor an der Hochschule St. Gallen, Peter Gross, will im Alter eher einen Glücksfall als eine Katastrophe sehen. «Noch nie konnten so viele Menschen so gut alt werden wie heute», betonte er. «Und noch nie konnten so viele Generationen so lange friedlich miteinander leben.»
«Überalterung» sei ein dummes Wort, kritisierte er – wie auch andere negative Begriffe im Zusammenhang mit dem Alter, zum Beispiel «Rentendebakel.» Der Streit um das Pensionierungsalter liesse sich entschärfen. Man müsse die Menschen nur selbst entscheiden lassen, wann sie in Rente gehen wollen, und die gesamte Altersvorsorge flexibiler gestalten. Denn das Bedürfnis danach sei so unterschiedlich wie die Menschen selbst.
Auf für die Demenz hat Gross eine positive Sicht. Viele Menschen möchten einfach im Alter vergessen, was sie ein Leben lang belastet hat: «Ist eine Krankheit denn so schlecht, bei der man vergisst, dass man krank ist?»
Angebote, in denen man selbst aktiv sein kann
Überhaupt solle alten Menschen kein neuer Druck auferlegt werden, sagte der Theologe und Fachmann für Altersfragen, Martin Mezger, und forderte: «Lasst die Alten in Ruhe!» Es dürfe keinen Zwang geben, erfolgreich alt zu werden.
«Man soll ohne schlechtes Gewissen alt werden dürfen», bestägte der Geschäftsleiter der Stiftung «focus Alter». In einem Seminar zusammen mit Ralph Kunz forderte er die Kirchgemeinden auf, sich im positiven Sinne als Altersorganisation zu verstehen. Sie sollten ihre Kompetenzen einbringen, vor allem über die Sozialdiakone.
Allerdings fragten ältere Menschen nicht mehr unbedingt nach Angeboten für «Senioren». Busfahrten und Diavorträge könnten durchaus sinnvoll sein, meinte auch Ralph Kunz. Ältere Menschen suchten aber auch Angebote, die nicht speziell für «Alte» vorgesehen seien. Gute Erfahrungen hätten Gemeinden zum Beispiel mit einer Schreibwerkstatt gemacht, verbunden mit einem Wettbewerb, und mit einem «Erzählkaffee», bei dem selbstgeschriebene Geschichten vorgelesen würden.
Im Alter glauben
Aber was unterscheide kirchliche Altersarbeit von andern Angeboten? Kunz auf die spezifischen Inhalte der Kirche hin. In Kursen könne zum Glauben ermutigt und «Weisheit der Bibel» oder allgemein Spiritualität vermittelt werden.
Bettina Ugolini, Leiterin der Beratungsstelle «Leben im Alter», Zürich, gab Hinweise, worauf zu achten sei, wenn die Rollen wechseln und die «Kinder» für ihre Eltern selbst die Eltern- und Betreuerrolle einnehmen müssen. Die Psychologin und Buchautorin Julia Onken ergänzte: «Älterwerden fordert uns heraus, über die eigenen Grenzen hinauszudenken. Dann kommen wir dem Menschsein näher.»
Die Theologin Elisabeth Moltmann-Wendel erklärte, es gelte, Gott im Alter neu zu entdecken und seine bisherigen Vorstellungen von ihm zu überprüfen. Sie wies darauf hin, wie Gott im Alter gefunden und neu erlebt werden kann.
Datum: 10.11.2010
Autor: Fritz Imhof
Quelle: Livenet.ch