Wie Eltern ihre Macht zum Wohl der Kinder einsetzen
Das Telefon klingelt. Die aufgebrachte Mutter sucht in ihrer Verzweiflung das Gespräch. Sie hat Macht ausgeübt. Und die Tochter auch. Und zwar nicht auf eine konstruktive Art. Die beiden sind in einen Machtkampf geraten.
Negative Machtkämpfe
Ist Ihnen das auch schon passiert? Mir schon, vor allem mit den Kleinkindern. Aber auch mit den Pubertierenden liess ich mich immer wieder auf ungute Machtkämpfe ein. Da erlebte ich meine Grenzen sehr deutlich. Negative Machtausübung durch Schläge, Gewalt und Zwang als Erziehungsmittel lehnte ich und lehne ich immer noch ab. Trotzdem kam es ab und zu vor, dass ich mein Kind anschrie oder ihm sogar eine Ohrfeige verpasste. Beschämung und Entmutigung machten sich in mir als Mutter breit und ich fühlte mich als Versagerin. Auch war die Angst da, ich könnte dem Kind einen Schaden fürs Leben zufügen.
Über Jahre leitete ich im Pfarrhaus Davos-Platz Frauengesprächsgruppen, in denen wir ehrlich über unsere Erziehungserfahrungen austauschten. Wir merkten bald, dass die meisten von uns, nebst viel Schönem und Wunderbarem, auch immer wieder unserer Ohnmacht begegneten. Die einen reagierten mit Schreien oder Schimpfen und die anderen mit Strafen oder Weinen. Es war entlastend, über das eigene Unvermögen auszutauschen. Doch wir wollten alle daran wachsen und einen Weg gehen.
Elterliche Macht
Elterliche Macht? Ist es nötig, darüber nachzudenken? Dem Begriff Macht in der Erziehung begegnete ich zuerst mit Widerstand: «Ich habe doch keine Macht als Mutter. Im Gegenteil, ich fühle mich als Dienerin von allen.» Oder: «Meine Eltern haben mich zum Gehorsam gezwungen, das wird mir als Mutter oder Vater nicht passieren.» Ich assoziierte mit Macht Vertrauensmissbrauch, Gewalt und Patriarchat und ich weiss, dass dies vielen Eltern so geht.
Im Austausch mit anderen Pädagoginnen und Pädagogen, durch Fachliteratur und im Fragen vor Gott kam ich zur folgenden Definition von Macht in der Erziehung: Macht heisst auf Englisch «Power». Das gefällt mir! Kraft! Macht ist Gestaltkraft. Macht ist der Wille zu formen, zu gestalten und zu beeinflussen. Es besteht ein Gefälle in der Macht; einer hat mehr Einfluss als der andere. Eltern haben mehr Macht als Kinder und somit eine grosse Verantwortung. Doch auch Kinder haben Macht, wollen formen und gestalten und mitreden und einmal das Sagen haben. Der Schöpfer hat uns alle mit der Würde und dem Willen zum Gestalten ausgerüstet und beauftragt.
Macht als Ermächtigung
Eltern tragen die letzte Verantwortung für die Machtverteilung in der Familie. Sie wachen darüber, dass sie ihre Macht nicht missbrauchen oder diese ganz den Kindern übergeben. Zugleich tragen Eltern die Verantwortung, zu entscheiden, was verhandelbar ist und was nicht. In der Familie geht es nicht um oben und unten, sondern um ein lebendiges, dynamisches System von Eltern und Kindern. Alle im Familiensystem, Kinder wie Eltern, sollen lernen, ihren eigenen Willen zu äussern und durchzusetzen, aber auch, ihn zurückzunehmen. Um das eigene Selbst zu entwickeln, brauchen Kinder den geschützten Ort, wo sie Nein sagen dürfen und ihren eigenen Willen erkunden und einbringen können. Sie lernen, sich durchzusetzen; das heisst, sie machen die Erfahrung, dass sie etwas bewirken können. Zugleich lernen sie Grenzen zu akzeptieren, sich einzuordnen und mit Frust umzugehen. Darin begleiten die Eltern sie.
Positive und negative Macht
Die Frage, wozu Eltern ihre Macht gebrauchen, ist sehr wichtig. Ein Beispiel: Das Kind vergisst immer wieder den Turnsack zu Hause, obwohl ich ihm die Verantwortung dafür übergeben habe. Was dient dem Kind nun zum Wachstum? Ich entschied, meinem Entschluss treu zu sein, obwohl ich dem Kind die Konsequenzen am liebsten aus dem Weg geräumt hätte. Auch hatte ich Angst, die Lehrerin würde mich als Rabenmutter abstempeln. Meine Macht wollte ich zum Wohl des Kindes einsetzen, damit es in der Eigenverantwortung wachsen kann. Und tatsächlich, es gelang dem Kind immer besser.
Wie kann sich negative Macht äussern? Zum Beispiel, indem Eltern dem Kind alle Steine aus dem Weg räumen. Oder indem sie am Kind herumtöpfern, weil sie seinen Charakter ändern, seine Schwächen und seine Fehler ausmerzen wollen. Oder indem sie die aktuellen Überzeugungen des Jugendlichen bekämpfen und seinen Aussagen widersprechen, anstatt sich dafür zu interessieren. Gott alleine ist der Töpfer der Kinder. Eltern verhindern möglicherweise sogar eigene Erkenntnisse der Kinder in der Gottesbeziehung, indem sie ihnen die ihren aufzwingen wollen.
Vielleicht haben Eltern Angst, das Kind werde im Leben nicht bestehen können. Ja natürlich, die Kinder wählen nicht unbedingt den gleichen Weg durchs Leben. Sie schlagen da und dort Umwege ein, sie werden nicht immer Bewahrte sein. Hinter elterlichen Druckmustern ist oft Angst. Angst vor Kontrollverlust. Doch Druck erzeugt Lähmung und Anpassung oder Rebellion, aber niemals Lebendigkeit und innere Stärke.
Es kann auch sein, dass Eltern Macht gänzlich ablehnen. Somit wird das Kind zu viel Macht übernehmen und sich als unzufriedener Tyrann gebärden. Negative Macht hat viele Gesichter; sie kann auch ohne Worte und Schläge manipulativ und verdeckt sein. Zum Beispiel, indem Eltern das Kind mit Schweigen, Trauer, Liebesentzug oder Manipulation ins Leere laufen lassen.
Positive Macht beginnt im Herzen
Das tönt gut, doch es will gelernt sein, als Eltern wie auch als Kinder. Eltern sind selber Lernende im Prozess zum gesunden und positiven Machtgebrauch. Es ist ihre Verantwortung, darüber zu wachen, dass ihre Macht dem Leben dient und nicht der Erniedrigung und Entwürdigung des Kindes. Kinder werden am Modell der Eltern positive oder negative Macht lernen. Eltern haben gerade an den Kindern die Chance, ihrer Ohnmacht zu begegnen und zu lernen, wie gesunde Macht und echte Autorität gelebt werden kann.
Am einleitenden Beispiel sehen wir, wie schnell Eltern in Machtkämpfe mit den Kindern geraten und wie Kinder um die Oberhand kämpfen. Im Kampfmodus kann man nicht erziehen und gibt es keine guten Lösungen. Den Eltern im Elterncoaching und in der Beratung im «Rhynerhus» raten wir, in solchen Situationen nicht sofort zu handeln, sondern sich einen sicheren Ort zu schaffen, innerlich und äusserlich. Die erwähnte Mutter lernte, sich selber zu stoppen. Sie hängte in der Küche ein Stoppschild auf. Sie bat Gott, sie zu stoppen, wenn sie sich das nächste Mal ihrer Tochter gegenüber ohnmächtig fühlte. Sie nahm sich vor, dann aus dem Raum zu gehen und sich in ihr Zimmer zurückzuziehen. Bei ihrer Tochter entschuldigte sie sich für ihr Fehlverhalten. Sie erzählte ihr von ihrem neuen Training, sich selber zu stoppen. Damit machte die Mutter den Anfang aus dem destruktiven Machtkampf und war bereit, Neues zu lernen. Sie übte das neue Verhalten auch in anderen Beziehungen ein. Eines Tages erzählte mir die Mutter: «Ich kann unsere Meinungsverschiedenheiten besser aushalten und die Wünsche der Tochter anhören und anerkennen. Wir sind einander nähergekommen. Da und dort hat mich die Tochter gelehrt, dass es nun an mir ist, meine Ängste zu bearbeiten und ihr mehr Vertrauen zu schenken. Und da und dort muss ich aushalten, dass sie mich blöd findet und frustriert ist über die Grenzen, die ich setzen will und muss. Und wenn ich wieder einmal mit ihr in einen Machtkampf trete, merke ich es schneller und kann aussteigen. Es fühlt sich lebendig und befreiend an, meine Kraft zum positiven Gestalten einsetzen zu dürfen. Und wenn ich in alte Muster falle, muss ich mich nicht mehr so verurteilen und kann schneller aufstehen und weiterüben.»
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Datum: 11.03.2019
Autor: Käthi Zindel
Quelle: Magazin INSIST