Halbgötter oder Rebellen?
Mit 15 oder 16 Jahren schrieb er mit seinen Freunden in das Kirchenbuch einer kleinen alten Kirche in England: «Stirb, Nazarener! Der Sieg ist mein!» und unterschrieb mit «Satan». Ein pubertärer Streich, gewiss – aber zu langweilig, moralisch und verstaubt war das «Christentum», das er im England der 1980er Jahre kennenlernte, wie er es in dem lesenswerten Aufsatz «The Cross and the Machine» (Das Kreuz und die Maschine) beschreibt, in dem er seinen spirituellen Weg nachzeichnet. Religion war autoritär und abergläubisch und völlig irrelevant für den aufgeklärten Heranwachsenden.
Visionen
Aber da war etwas in ihm, das er am deutlichsten spürte, wenn er mit seinem Vater in den Bergen wanderte und zeltete; eine spirituelle Sehnsucht, die ihn sich eins fühlen liess mit der Natur. Das «intensive Wunder und das Geheimnis der natürlichen Welt», das wurde jetzt seine Religion.
«Es folgten Jahre des Umweltaktivismus. Ich arbeitete für NGOs, schrieb für Zeitschriften, kettete mich an Dinge, marschierte, besetzte: Was auch immer man tat, man musste etwas tun, denn der Zustand der Erde war schrecklich», beschreibt er seine aktiven Jahre. «Die Rebellion gegen Gott manifestierte sich in einer Rebellion gegen die Schöpfung, gegen die gesamte Natur, ob menschlich oder wild. Wir würden die Erde bis zum letzten Nanopartikel umgestalten, um sie unseren Wünschen, die wir jetzt 'Bedürfnisse' nannten, anzupassen. Unsere neue Welt würde globalisiert, einheitlich, vernetzt, digitalisiert, hyperreal, überwacht und immer eingeschaltet sein. Wir bauten eine Maschine, um Gott zu ersetzen.»
Tiefes spirituelles Unwohlsein
Immer deutlicher erkannte er, «dass so etwas wie der Klimawandel oder das Massenaussterben kein 'Problem' ist, das durch Politik, Technologie oder Wissenschaft 'gelöst' werden muss, sondern Ausdruck eines tiefen spirituellen Unwohlseins. Selbst ein Atheist könnte erkennen, dass unsere Versuche, Gott zu spielen, in einer Katastrophe enden würden.»
Zu seinem 40. Geburtstag gönnte Kingsnorth sich eine einwöchige Zen-Retraite in den Bergen. In den nächsten Jahren praktizierte er Zazen und studierte die Lehren Buddhas. Aber etwas fehlte ihm: «Es war voller Mitgefühl, aber es fehlte an Liebe.» Vor allem aber: «Ich suchte etwas, dass ich anbeten konnte. Ich wollte verehren.»
Wicca-Priester
Dieses Element der «Verehrung» fand er daraufhin im Wicca-Kult, einer okkulten Tradition voll magischer Lehren, Zauberei mit Ritualen im Wald bei Vollmond. «Endlich war ich zu Hause, wo ich hingehörte: im Wald, um eine Naturgöttin unter den Sternen zu verehren. Ich durfte sogar einen Umhang tragen. Alles schien wie am Schnürchen zu laufen. Bis ich anfing, Träume zu haben.» Eines Nachts träumte er – von Jesus. «Der Traum war lebhaft, und als ich aufwachte, schrieb ich auf, was ich ihn hatte sagen hören, und ich zeichnete, wie er ausgesehen hatte.»
Monatelang begann er nun, Christen zu treffen. Er hatte gar keine Lust auf diese alte verstaubte Religion, aber wie C.S. Lewis «konnte ich 'die ständige, unerbittliche Annäherung dessen, dem ich so sehr wünschte, nicht zu begegnen', nicht ignorieren».
Die Geschichte, die die Welt am besten erklärt
Nach langem Widerstand gab er nach und liess sich vor 1,5 Jahren in einer orthodoxen Kirche taufen. In der Konsequenz aller Lehren, denen er bisher gefolgt war, erkannte er: Wir sind Rebellen, die dabei sind, die Welt nach unserem Bild zu formen und dabei kaputtzumachen. Diese «grosse Geschichte» der Bibel erklärt die Welt am besten. Ohne Umkehr von dieser Rebellion wird die Welt und die Schöpfung nicht zu retten sein.
Er schreibt heute: «Ich bin in dem Glauben aufgewachsen, den man allen modernen Menschen beibringt: dass Freiheit das Fehlen von Zwängen bedeutet. Die Orthodoxie lehrte mich, dass diese Freiheit gar keine Freiheit war, sondern eine Versklavung an die Leidenschaften: eine treffende Beschreibung der ersten dreissig Jahre meines Lebens. Die wahre Freiheit, so stellt sich heraus, besteht darin, den eigenen Willen aufzugeben und dem Willen Gottes zu folgen. Sich selbst zu verleugnen. Es kommen zu lassen. Darin bin ich noch ein schrecklicher Anfänger, aber wenigstens verstehe ich jetzt den Weg.»
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Datum: 13.08.2022
Autor: Reinhold Scharnowski
Quelle: Jesus.ch / paulkingsnorth.net