Der Ideen-Entzünder
Eine wichtige Erfahrung waren die Reisen zur Willow Creek Community
Church nach Chicago. Wie bist du mit dieser Gemeinde erstmals in Berührung
gekommen?
Ulrich Eggers: Von Willow Creek und Bill Hybels zum ersten Mal erfahren habe
ich durch Ulrich Parzany und sein missionarisches Magazin 'Schritte'. Darin
berichtete jemand über Willow Creek als positives Beispiel evangelistischer
Gemeindearbeit. Dann kam Hybels erstmals zu einem Gemeindekongress 1993 nach
Nürnberg, bei dem ich allerdings nicht dabei war. Ich hörte mir hinterher die
Kassetten davon an und war sehr berührt, wie die Gemeinde aus einer
Jugendgruppe heraus aufgebaut worden war. Mich beeindruckte diese konsequente
Ausrichtung auf Kirchenferne und die damit verbundene Übersetzungsarbeit: Wenn
ich Menschen draussen erreichen will, muss ich mich von meinen Traditionswurzeln
befreien und ihre Sprache sprechen, für sie verständlich sein. Dann kam es zu
einem glücklichen Umstand, dass mich Wilfried Bohlen, der Leiter des Bereichs 'Heimatmission' in der baptistischen Zentrale in Bad Homburg, einlud, in den
Vorstand für einen nächsten deutschen Kongress mit Hybels zu kommen.
Dadurch lerntest du dann Willow Creek vor Ort in Chicago kennen?
Als Vorbereitung für den Kongress sind wir als kleines Team in die USA
geflogen. So etwas hatte ich bisher noch nirgendwo kennengelernt: Ich war
restlos fasziniert von der absichtsvollen Durchdachtheit der missionarischen Strategie.
Dieses Motto: «Alles, was wir in der Gemeinde tun, ist unserem missionarischen
Paradigma unterworfen. Verlorene Menschen bedeuten Gott etwas. Kirche ist die
Hoffnung für die Welt. Wir sind die Organisation, die für Menschen die Hoffnung
von Jesus ausstrahlen kann.» Dies vor Ort verkörpert zu sehen, wo ja all das
blühte und lebte mit Kunst, Musik, Theater und starken diakonischen Elementen;
zu sehen, wie Gemeinde praktisch funktionieren kann mit den beiden Händen
Christi, die mir von der Lausanner-Bewegung her ja wichtig waren, hat mich
restlos begeistert. Ich kam nach Hause und habe mich mit grosser Überzeugung
eingesetzt, die Philosophie und Praxis dieser Gemeinde in Deutschland bekanntzumachen.
Darum ging es ja vor allem bei den ersten Kongressen.
Die Mehrheit der Leitenden und Gemeinden will wohl lieber etwas kopieren,
statt die biblische Philosophie dahinter zu verstehen und im eigenen Kontext
auf eigene Weise danach zu handeln.
Nachhaltige Entwicklung und Wachstum können aber nur so gelingen: Ich prüfe eine
Idee im Blick auf ihren Grundimpetus. Warum ist sie gut? Ich gehe zurück an die
Wurzel einer Form. Wenn die Wurzel gut ist, gewinnt das Projekt Formfreiheit,
denn es geht ja um die Wurzel und nicht um die Form! Und da gibt es das Missverständnis: Willow als magische Abkürzung.
Wir würden so gern eine Formel finden, um all dieses mühsame Säen und Ernten,
diesen langen, zähen Prozess von Beziehungsaufbau und Begleiten abzukürzen.
Aber Liebe ist nun mal einfach Arbeit und Entscheidung – es gibt keine
Abkürzung. Deswegen geht es an der Stelle um das eigene Herz – und um das der Gemeinde: Wollen wir
überhaupt missionarisch sein? Deswegen startet jeder Willow-Ansatz mit Gebet.
Für wen? Für mich selbst: «Herr, berühr mein Herz, verändere mich, gib mir offene
Augen für einen Menschen, gib mir neue Liebe!» Wenn das eine Gemeinde will –
dann kann sich von innen her all die Kreativität und Leidenschaft entwickeln, die
so etwas wie Willow möglich macht. Aber wenn dein Herz nicht bewegt ist, bewegst
du auch nichts ...
Willow ist einen langen, 'erfolgreichen' Weg gegangen. Nun ist durch das
Ausscheiden von Hybels und die damit verbundenen Vorwürfe von Machtmissbrauch
und sexuellen Übergriffen eine Zäsur eingetreten. Und so muss diese Gemeinde
aus dem Zerbruch heraus wieder neu beginnen. Vielleicht kann sie gerade darin
wieder ein Vorbild sein, denn es gibt viele Leitende und viele Gemeinden mit Zerbruchsgeschichten.
Wie siehst du das?
Eine Krise ist in der unmittelbaren Begegnung nichts Schönes, aber das ist nun mal
das Wesen der Krise. Zwei Dinge kann man daraus lernen: einmal persönlich,
einmal institutionell. Erfolgsphasen unterliegen automatisch einer Gefahr, nämlich
diesem Gefühl: «Jetzt wissen wir, wie es geht!» Das geht mir in meiner Nachfolge
mit Jesus auch so. Es gibt Momente in der eigenen Entwicklung, in denen man
denkt: «Jetzt bin ich so weit, dass ich ein Stück Boden unter den Füssen habe!
Ich habe etwas erlebt oder begriffen!» Mit diesem Gefühl im Rücken segelt man
dann eine Strecke. Und auf einmal kommt der Absturz, weil man merkt: «Nix habe
ich unter den Füssen, ich krebse genau an denselben Stellen oder ähnlichen
Stellen wieder neu rum, muss wieder lernen.» Die Gefahr des Höhenflugs besteht
in einem Ausblenden der eigenen, noch immer vorhandenen Versuchlichkeit, der
Schwäche und der Grundproblematik: Ich nehme mich mit ... Trotzdem kannst du
etwas lernen. Deswegen spreche ich an dieser Stelle von
Wendeltreppen-Spiritualität: Du arbeitest dich durch schwere Erfahrungen langsam
empor und wirst reifer - aber du kommst nie raus aus dieser Spannung! Das ist
auch bei Gemeinden und Organisationen so. Es ist gefährlich, wenn du Erfolg
hast. Es lässt dich schweben, sodass du dich blenden lässt und nicht mehr glaubst,
dass nach dem Gipfel vermutlich ein Tal kommt oder gar ein Abgrund. Und du bist
auch gar nicht darauf vorbereitet, weil diese Art der Flughöhe mit Herausforderungen
verbunden ist, die du nicht kennst, denn du warst noch nie da, wo du jetzt
stehst.
In deiner Leitungsrolle bei Willow Creek Deutschland hast du Bill Hybels
persönlich kennengelernt. Wie hast du ihn in diesen Begegnungen erlebt?
Es war ein gegenseitiger Respekt da, man kannte sich, konnte sich aufeinander
verlassen. Wir haben oft bei den Essen, die wir vor den Kongressen hatten,
nebeneinandergesessen. Er war ein interessanter Gesprächspartner. Wann immer es
um visionäre Themen rund um Gemeinde und christliche Szene ging, waren wir gut miteinander
unterwegs. Er mochte keine Vielredner, kein Wort zu viel auf der Bühne. Auch da
ging es immer um die Botschaft, keine Ego-Show. Er konnte da extrem streng und
kritisch sein, hatte wirklich jedes Detail im Blick. Zugleich stimmt es nicht,
dass Willow nur durch und mit ihm zu dem geworden ist, was es wurde. Ja, er war
der Visionär, der absolute Leiter, ein enorm starker Kommunikator. Aber er hatte
auch ein starkes Team um sich herum, hat die besten Leute für die Willow-Vision
gebunden. Und das waren wiederum keine Weicheier, sondern echte Teilhaber an
dieser grossen Bewegung.
Und auf der zwischenmenschlichen Ebene?
Er konnte sich auf der Bühne verströmen, konnte und wollte aber persönlich nicht
so nahbar sein, wie es das Bühnenbild vermittelte. Er brauchte Rückzugsräume.
Wenn einer so viel Vision und Hoffnung abstrahlt, dann kann er nicht die
gefüllten Herzen von Hunderten von Besuchern hinterher ganz nah an sich
heranlassen. Das verzehrt sonst. Er hat nach jeder Predigt Leuten ermöglicht,
mit ihm zu sprechen. Zugleich kostete ihn das enorme Kraft und Geduld.
Es gab einen spannenden Gegensatz: Er war supergeduldig und verständnisvoll gegenüber Ehrenamtlichen. Hat darauf geachtet, dass sie gefördert, gut behandelt und eingesetzt wurden. Gleichzeitig war er eckig und fordernd gegenüber Hauptamtlichen, die für ihre Sache bezahlt wurden. Es war sicher nicht einfach, unter ihm zu arbeiten. Davon haben wir auch in Deutschland während der über zwanzigjährigen Kongressarbeit etwas gemerkt: seine Ungeduld, seine steilen Forderungen. Unsere manchmal natürlich auch am Anfang unbeholfenen deutschen Bemühungen, irgendwas einzuwerfen oder ergänzen zu wollen. Da konnte er auch schroff sein, ablehnend, abwehrend.
Vor etwas mehr als zwei Jahren hat sich der Wind gedreht. In der Presse gab
es immer lautere Vorwürfe gegen Hybels: Machtmissbrauch, sexuelle Übergriffe.
Wie sah deine erste Reaktion darauf aus?
Natürlich habe ich versucht, diese Vorwürfe in das einzubauen, was ich über diese
Person wusste. Wir hatten im Lauf der Jahre ja auch die Ältesten der Gemeinde
kennengelernt, starke Leute mit Ausstrahlung. Zugleich wurde im Nachhinein
klar, dass sie wohl im Wesentlichen ein Unterstützerkreis für die Vision der
Gemeinde und für das gute Tempo des Fortschritts waren. Sie hatten ein riesiges
Grundvertrauen in Hybels, der ja mit Fehlern und Irrtümern durchaus auch offen
umging. Ihr strategischer Ansatz war: «Wir räumen diesem gesegneten Mann Gottes aus dem Weg, was es aus dem Weg zu räumen gilt. Wir schützen ihn
und unsere Vision.» Ein echtes kritisches Gegenüber im Sinne einer
kontrollierenden Verantwortung und gemeinsamen Leitung oder auch nur einer
Endverantwortung eines Ältestenkreises gab es sicher zu wenig.
Vereinfacht gesagt: Menschen wollen Helden. Sie wollen Helden sehen und sie
wollen Helden fallen sehen.
Wir haben nicht gelernt, mit beidem umzugehen. Wir haben keine gute Theologie in
Bezug auf Helden, die diese auch Menschen sein lässt. Ein David hat Menschen
umgebracht, hat die Ehe gebrochen und dennoch verehren wir ihn heute fröhlich.
Wie bewerten wir so etwas theologisch? Als billige Ausrede für Bill Hybels darf
es nicht herhalten – aber eine Wahrheit wird hier dennoch deutlich: Gute tun Schlechtes
und Schlechte tun Gutes – also arbeiten wir vielleicht mit den falschen Begriffen.
Es gibt keine Schlechten und Guten, keine Helden und Versager, alle sind nur
Menschen, die Potenzial nach beiden Seiten hin haben. Wie bewerten wir das
geistlich? Ist ein Mensch nur nach seiner allerletzten Sünde für uns
verehrungswürdig oder stecken Sünde und böse Gedanken nicht noch in ihm,
nachdem wir ihn schon verehren? Ich merke da eine Unwilligkeit, sich überhaupt
mit so etwas Komplexem zu beschäftigen – wir wollen edle Helden oder müssen sie
stürzen. Wir sehen das ja auch in der Politik heute, da werden schier übermenschliche
Forderungen und Erwartungen erhoben.
Ich ärgere mich auch über unsere christliche Szene, wo die grundsätzliche Einsicht in diese Ambivalenz von Menschen zwar da ist, aber kaum Konsequenzen gezogen werden. Wir laufen fröhlich pfeifend durch die Gegend und sagen klug, dass für Leitende und Menschen und Christen generell der Umgang mit Geld, Sex und Macht das Schwierigste ist. Da passieren die grossen Fehler, da lauert die Sünde. Wir wissen das, aber wir predigen kaum darüber, lehren nicht den Umgang damit, wir sind nicht ehrlich und sind dann überrascht, wenn gerade da immer wieder etwas passiert. «Ach, das hätte ich jetzt nicht gedacht! So etwas passiert einem so tollen Menschen?» Hier müssen wir barmherziger miteinander werden und uns gegenseitig klüger schützen. Wie erreichen wir eine Transparenz, die nicht blossstellt, aber zugleich brutal offen und hilfreich ist? Über die wirklichen Knackpunkte des Lebens, da wo es dunkel und gruselig wird, darüber reden wir zu wenig, da herrscht viel Einsamkeit.
Was heisst das für deinen heutigen Blick auf Hybels?
Da stehen zwei harte Wirklichkeiten unversöhnt nebeneinander. Ich bin nach wie
vor inspiriert und dankbar für all das Gute, was Hybels gelebt, entdeckt und
gesagt hat. Das bleibt für mich bestehen. Die deutschen Gemeinden haben ihm und
den Konferenzen zu Recht viel zu verdanken. Gleichzeitig bin ich sicher, dass
es bei ihm Machtmissbrauch gegenüber Frauen und Männern gegeben hat – das ist
absolut nicht akzeptabel und muss klar benannt werden. Ich warte darauf, dass
Bill dazu irgendwann einmal substantiell Stellung nimmt, und hoffe, dass das
bald kommt. Die Frauen haben es verdient – und sein Lebenswerk genauso, das er
durch sein Schweigen selbst belastet.
Zugleich gibt es nicht nur einen Schuldigen – auch wenn er klar der Auslöser des Konfliktes ist. Viele, die ihn kritisieren, waren Teil des Systems, haben mit ihm geleitet und standen ja direkt daneben. Und ich würde unterscheiden zwischen Machtmissbrauch, sexuellen Avancen und ehelicher Untreue, die ja auch im Spiel war. Lynne und Bill haben intensiv an ihrer Beziehung gearbeitet, die Dinge zwischen ihnen waren wieder in Ordnung, soweit ich das einschätzen kann. Auch da wurde jetzt natürlich manches wieder aufgerissen, was zum Teil aber auf einem anderen Blatt steht.
Dieser Artikel erschien zuerst im Magazin von Willow Creek Deutschland
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Datum: 17.01.2022
Autor: Thomas Härry
Quelle: Willow Creek Magazin