«… und dann wurde mir klar, dass Gott mich sieht»
Viele Menschen spielen mit dem
Gedanken, irgendwann ein Buch zu schreiben. Sie haben es getan. Warum?
Sheila Serrer: Angefangen habe
ich mit einem Reiseblog, ohne gross darüber nachzudenken. Irgendwann war ich
nur noch damit beschäftigt, meine Gedanken zu notieren, da dachte ich: Ich
sollte ein Buch schreiben. Bald habe ich gemerkt, dass mein Text viel mehr mit
meinem Glauben als mit meiner Reise zu tun hat. Ich denke, dass Gott mir eine
Berufung gegeben hat, so etwas wie eine Stimme zu sein und meine Geschichte zu
erzählen.
Sie erzählen im Buch von sich und Ihrer Kindheit. Könnten Sie das einmal kurz zusammenfassen?
Ich komme aus dem Schwarzwald,
aufgewachsen bin ich überall und nirgends. Mein Vater ist alkohol- und drogenabhängig,
und meine Mutter ist dadurch in Depressionen gefallen. Es hat eine ganze Weile
gedauert, bis mir klar wurde, dass so etwas nicht «normal» ist. Nach der
Scheidung meiner Eltern war ich erst bei meiner Mutter und bin mit ihr oft
umgezogen. Später habe ich bei meinem Vater gelebt, der nie durchgängig
getrunken hat – doch er wurde immer wieder rückfällig. Schliesslich bin ich
selbst depressiv geworden. So bin ich aufgewachsen: Papa trinkt und Mama ist
traurig.
Wie hat sich das geändert?
Für meine Ausbildung als
Erzieherin hab ich ein Praktikum in einem christlichen Sommerlager gemacht. Das
war schön, hat aber fast keinen Eindruck bei mir hinterlassen. Ein Jahr später
fragte die Leiterin an, ob ich noch einmal als Mitarbeiterin mitkommen wollte.
Es hat mich selbst überrascht, dass ich Ja gesagt habe. Und diesmal hat es
klick gemacht. Ich hoffte einfach, dass das, was wir den Kindern erzählten und
mit ihnen sangen, auch für mich gilt. Kurze Zeit später in einem Gottesdienst
lernte ich Gott kennen – zum ersten Mal richtig.
Sie vergleichen sich in Ihrem
Buch mit Hagar, der Sklavin und Nebenfrau von Abraham. Warum?
Hagar kommt in ihrem Leben immer
wieder in die Wüste, einmal wird sie sogar von Gott dahin geschickt und denkt,
dass sie dort sterben muss. Aber genau in dieser lebensfeindlichen Umgebung
begegnet sie Gott und erkennt, dass er sie sieht. Sie gibt ihm sogar den Namen
«El Roi» (Gott, der mich sieht), und sie überlebt. Diese Geschichte habe ich
nach meiner Bekehrung gehört, mein Vater war gerade wieder rückfällig geworden,
und ich fühlte mich wie in der Wüste. Es hat mich so berührt zu merken, dass
Gott mich sieht – genau wie Hagar – und mir begegnet. Es hat mich zur Gesehenen
gemacht, und das hat alles verändert.
Wen haben Sie beim Schreiben im
Blick gehabt?
Am Anfang niemanden bestimmten,
da war es eine Art Tagebuch für mich. Aber dann wurde es mir immer wichtiger,
für all diejenigen zu schreiben, die eine Erinnerung daran brauchen, dass Gott
sie sieht. Und natürlich richte ich als Frau mich damit in erster Linie an
Mädchen und Frauen. Oft denke ich dabei an mich zurück, wie sehr ich mir früher
jemanden gewünscht hätte, der mir sagt, dass ich gesehen und geliebt bin.
Welche Reaktionen bekommen Sie auf
Ihr Buch? Was freut Sie dabei besonders?
Das Buch ist erst vor vier Wochen
erschienen. Tatsächlich waren die vielen Reaktionen darauf erst eine
Überforderung, genauso wie der Eindruck, dass sich plötzlich jeder für mich
interessiert. Dieses Interesse und die vielen Nachrichten und Mails machen mich
dankbar – und demütig. Besonders wenn dann Stimmen kommen wie die von einem
17-jährigen Mädchen, dessen Eltern auch Alkoholiker sind: «Sheila, ich lese
gerade dein Buch und ich möchte dir danke sagen.» Es hat mich besonders
berührt, dass Gott mich gebraucht, um jungen Frauen Hoffnung zu schenken.
Sie beschreiben im Buch Ihren Heilungsprozess als hilfreich, aber nicht abgeschlossen. Wie gehen Sie damit um?
Was bedeutet «Überleben in der Wüste» praktisch für Sie?
Früher habe ich Heilung als Ziel
gesehen, als einen Punkt, an dem ich ankomme. Aber vielleicht ist Heilung das,
was auf dem Weg passiert. In der Ewigkeit ist Heilung komplett, aber was
bedeutet das jetzt, zum Beispiel wenn mein Vater nicht aufhört zu trinken? Ich
habe keine Garantie dafür, dass hier schon alles gut wird. Deshalb heisst mein
Buch auch «Sein Blick heilt dein Herz». Das passiert gerade jetzt in diesem
Moment, aber es ist nicht abgeschlossen.
Im Buch behandeln Sie Themen, die
leider viele Mädchen nachvollziehen können: sexualisierte Gewalt, Alkohol,
fehlende Selbstachtung, Scheidung der Eltern und auch Selbstverletzung. Was
empfehlen Sie Mädchen, die mit diesen oder ähnlichen Fragen nicht klarkommen?
Ganz wichtig finde ich es, mit der
Scham umzugehen, die damit zusammenhängt. Niemand muss sich dafür schämen,
verletzlich zu sein. Ich gebe dann den Tipp, sich Hilfe zu holen und sich zu
öffnen, damit Liebe, Hilfe und Gottes Licht ins Leben hineinkönnen. Oft ist
auch Therapie notwendig. Ich selbst war als Jugendliche teilweise stationär in
Behandlung und gehe immer noch wöchentlich zu einer Seelsorgerin. Dabei denke
ich: Das ist keine Schwäche. Dieses falsche Bild in der Gesellschaft muss sich
wohl noch ändern. Es macht mich sogar stärker, wenn ich meine Schwächen zeigen
kann.
Worüber staunen Sie nach vier
Jahren, in denen Sie mit Jesus gelebt haben, am meisten?
Darüber, wie krass gross Gott
ist. Ich war inzwischen auf einer Kurzbibelschule und habe so viel über ihn
gelernt. Und jetzt sitze ich hier, habe sogar ein Buch dazu geschrieben, rede
über Jesus und verkündige das Evangelium. Das war nie mein Plan, aber ich
staune, wie gut Gott ist.
Zum Buch:
Sheila Serrer: Sein Blick heilt
dein Herz. Von einem Gott, der deine Wüste zum Blühen bringen will, 176 Seiten,
Gerth Medien, ISBN 978-3-95734-718-3. SFr 18,80 / EUR 15,-.
Zum Thema:
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Datum: 04.03.2021
Autor: Hauke Burgarth
Quelle: Livenet