«Ich habe einfach keine Angst mehr vor dem Scheitern»
geht er auf die 90 zu und glaubt mehr denn je an Gottes Güte. Er sagt sogar: «Ich wäre nie hier angekommen, wenn ich nicht Blödsinn gemacht hätte. Wir haben einen Gott, der in die Trümmer hineinbaut.»
Mit fünf Jahren begegnet er Jesus zum ersten Mal, mit 30 ist er
leidenschaftlicher Pfarrer in einer lebendigen Gemeinde, mit 40 schwört
er sich, nie wieder auf eine Kanzel zu steigen und mit 60 gründet er die
Stiftung Schleife. Heute, fast 30 Jahre später, sitzen wir in seinem
Büro zusammen in Winterthur.
Zuerst wie eine Lokomotive auf Schienen
Die erste Begegnung mit Jesus hatte Geri Keller schon sehr früh, mit fünf Jahren. Auf einem Familienausflug zum Vierwaldstättersee sieht Geri plötzlich, wie Jesus an die Tür der Astrid Kapelle klopft, sich bückt und zu ihnen eintritt. «Das war für mich wie eine Berufung: Jesus, der die Kirchen der heutigen Zeit betritt.» Danach war klar, dass er Pfarrer werden wollte: «Da war eine tiefe Leidenschaft in mir, das Wort rauszubringen.»
Sein junges Leben verläuft wie am Schnürchen. Erst die Schule, dann Gymnasium und das Studium zum Pfarrer. Beim Staatsexamen schliesst er mit besten Noten ab und schlittert in das Pfarramt rein. Es ist, wie wenn jemand eine kleine Lokomotive auf die Schienen setzt und diese problemlos überall durchläuft.
Das totale Scheitern
Dann – ganz unerwartet – das totale Scheitern bereits im ersten Pfarramt. Nach nur sieben Jahren lässt sich seine Frau von ihm scheiden. Es wird ihr zu viel, so kann sie nicht weitermachen. Und für Geri die niederschmetternde Einsicht: «Ich war eigentlich mit der Pfarrgemeinde verheiratet und nicht wirklich mit meiner Frau.» Nach dem Gerichtsurteil rennt er raus auf die Toilette und heult wie ein Schlosshund.
Plötzlich ändert sich alles. Nach einer Scheidung, so ist Geri überzeugt, ist das mit dem Pfarramt ein für alle Mal vorbei. «Ich habe mich auf der Kanzel geschämt, die Gemeinde anzuschauen.» Bald darauf trifft er seine Entscheidung. «Kurz vor Mitternacht habe ich den Schlüssel eingeworfen – in den Briefkasten dieser Gemeinde im Tössfeld, die ich über alles liebte. Danach fuhr ich im Deux Chevaux los – auf dem Dach das kleine Sofa und im Kofferraum eine Schachtel mit Büchern. Nach Zürich, in ein möbliertes Zimmer.»
Im kommenden, dreijährigen Kampf versucht Geri fieberhaft, wieder Boden unter die Füsse zu kriegen. Zuerst als Taxifahrer (aus irgendeinem dummen Grund besteht er die Prüfung nicht), dann als Heilpädagoge und mit einer Foto- und Filmausbildung am Fernsehen. Immer mit dem gleichen Hintergedanken: Nur nie mehr auf die Kanzel! «Mit allen Mitteln Gott beweisen, dass ich gar nicht mehr Pfarrer sein kann!»
Veränderung durch Römerbrief
In dieser Verzweiflung greift er zum Römerbrief. Dieser legendäre Brief, der vor 500 Jahren bereits für Martin Luther den Durchbruch brachte. «Ich dachte, ich lese jetzt den Römerbrief von A bis Z. Am besten lerne ich den ganzen Brief auswendig, dann kann ich jedes Wort verstoffwechseln und in mich reinnehmen.»
Bereits beim 7. Kapitel geschieht etwas: Plötzlich kapiert Geri, dass Gott nur darauf wartet, dass er endlich akzeptiert, dass es noch eine Gnade gibt, zu der er absolut nichts dazu tun kann. Eine Gnade, die ganz genauso für ihn als Geschiedenen gilt wie damals für Paulus und heute für jedermann.
«Als mir das bewusst wurde, bin ich in meinem Büro umhergetanzt wie ein Verrückter und habe gejauchzt und gejubelt und getobt. Das war ein Wendepunkt für mich: dass es keine Vorbedingungen gibt, wie ich sein sollte oder was ich leisten muss. Sondern dass Gott mich absolut bedingungslos liebt, auch als geschiedener Mensch. So wie ich bin, mit all diesem Zeugs, das noch an mir hängt. Und dass es jetzt seine Sache ist, mit mir etwas Ordnung in dieses Durcheinander zu bringen. Oder wie Paulus es ausdrückt: 'Ich kann mir selbst nicht helfen, weil die Sünde in mir mich zum Bösen verleitet. Wer wird mich von diesem Leben befreien, das von der Sünde beherrscht wird? Gott sei Dank: Jesus Christus, unser Herr!' (Römer Kapitel 7, Vers 17 und 24-25). Man sagt dann auf eine fromme Art 'heiliger werden'. Aber das macht Gott. Und das ist es im Grunde genommen. Wir haben einen Gott, der in die Trümmer reinbaut. Der das Scheitern benutzt, um noch etwas Besseres zu machen. Ich meine, der Paulus, der vorher Christenverfolger war und Blut an den Händen hatte, der wurde nachher zum Weltapostel. Also – ich habe einfach keine Angst mehr vor dem Scheitern.»
Zweite Ehe und zweites Pfarramt
Diese Erkenntnis wird für Geri kurz danach auch persönlich zum Wendepunkt, allerdings anders verpackt als er denkt. Die Pfadfinder Winterthur wollen die Zeller Weihnachten aufführen und fragen Geri, ob er die Regie übernimmt. Eine jüngere Musikerin ist auch dabei. Und prompt verliebt sie sich in Geri. Also erzählt er ihr alles von sich, um sie abzuschrecken. Nochmals zu heiraten, wäre für ihn ein Graus.
«Vor Weihnachten stand sie dann vor meiner Türe mit einer Flasche Wein in der Hand und sagte: 'Ich will dich heiraten.'» So kommt Geri zu seiner zweiten Ehe mit Lilo und zu seinen zwei Söhnen. Nicht lange danach taucht eine Pfarrwahlkommission auf und will Geri unbedingt wählen. Und so kommt er zum zweiten Pfarramt. «Aus Dankbarkeit habe ich die weiteren Kapitel im Römerbrief doch noch auswendig gelernt. Aus lauter Dankbarkeit, was dieser gute Gott mir geoffenbart hat.»
«Es wird immer, immer, immer schöner»
Hier spricht ein Mann, der ein buntes und oft unvorhersehbares Leben lebt. Und der trotz Krisen die Hoffnung und sein Vertrauen in einen guten Gott nicht aufgegeben hat. Sein Traum ist es, das Reich Gottes auf dieser Erde noch sichtbarer zu erleben. Er schlägt mit der Faust auf den Tisch: «Ich steuere nicht nur dem Himmel dort oben zu, sondern erwarte, dass dieser Himmel auf die Erde kommt.»
Hört man ihn sprechen, will man trotz der weissen Haare kaum glauben, dass er bereits auf die 90 zugeht. «Wir haben vor kurzem den 50. Hochzeitstag gefeiert, und ich muss sagen: Es wird immer, immer, immer schöner.»
Die bedingungslose Liebe des Vaters
Wir sitzen noch immer im weiss verputzten Büro in Winterthur. Geri im hell violetten Hemd und dunklen Jackett, und unser Team mit Film-Equipment und den Interviewfragen in der Hand. Eine letzte, brennende Frage haben wir noch: «Geri, wenn du jetzt zurückdenkst an die Zeit, in der du in diesem Loch fest stecktest: Was würdest du einer Person sagen, die im Moment an diesem Ort steht wie du damals, in dieser Verzweiflung und Selbstanklage?»
«Ich würde zuerst nichts sagen. Ich würde diese Person einfach mal umarmen und an mich drücken. Und vielleicht eine Runde heulen, weil ich weiss, wie so jemandem zumute ist. Dann anschliessend würde ich vielleicht etwas sagen, als Zeugnis von mir. Ich würde versuchen, ihm einfach die Liebe des Vaters nochmals klar zu machen. Dass unser Vater bedingungslos liebt und dass er nur darauf wartet, dass wir kommen und dass es eigentlich nur darum geht, aufzustehen und zu diesem Vater zu gehen. Punkt. Ende.
Das ist ja eben dieser Irrglaube, dass wir immer meinen, wenn wir keine Pannen haben und keine Einbrüche, dann könnten wir etwas sukzessiv aufbauen. Dabei kann Gott uns gerade nach einer Krise direkt mit dem Lift ein paar Stockwerke höher mitnehmen. Ohne Krise hätten wir uns das vielleicht mühsam erarbeiten oder zuerst lange Durststrecken überwinden müssen.»
Zum Magazin:
ICF Church Magazin
Geri Keller spricht auch hier im Video über sein Scheitern:
Zum Thema:
Hope to the World: Geri Keller: Die eingebrannte Wahrheit
Pfarrer Geri Keller: «Bruder Klaus war ein Komet»
25 Jahre Stiftung Schleife: Ein Miteinander der Generationen
Datum: 18.11.2019
Autor: Daniel Forrer
Quelle: ICF Church Magazin