«Es muss etwas Grösseres als uns Menschen geben»
Bernhard Russi steht am Strassenrand und diskutiert freundlich mit einem Autolenker, der ungebeten seinen Privatparkplatz besetzt. Der wird gebraucht, da er spontan den Interview-Ort gewechselt hatte, von einer Hotel Bar in Andermatt zu ihm nach Hause. Er habe Enkel-Hüte-Dienst, sagt er, im Moment seien die zwei Jungs noch auf der Piste gegenüber, beim Skifahren. Dann stapft er durch den Schnee einen steilen Hang hinunter zu seinem Holzhaus, das inmitten von zahlreichen anderen Häusern steht und weder besonders gross, noch sonst auffällig ist. Auch im Inneren finden sich keinerlei Anzeichen von Luxus. Pokale und Medaillen fehlen. Die sind im Museum in Andermatt. Daheim will die Sportlegende Privatmann sein.
Herr Russi, hat sich für Sie mit 70 etwas verändert?
Nein. Ich habe nach wie vor meine Wünsche und Träume für die Zukunft. Die lasse ich mir von einer Zahl nicht nehmen.
Sie hatten früher sicher eine gewisse Vorstellung von 70-Jährigen.
70-Jährige
konnte und wollte ich mir gar nicht vorstellen. Als mein Vater 50 wurde
dachte ich mir oje, nun ist er ein alter Mann.
Verraten Sie uns Ihr Geheimrezept, um mit 70 so auszusehen?
Das würde ich so nicht unterschreiben. Ich sehe oft grässlich aus, wenn ich in den Spiegel schaue.
Sie übertreiben…
Man muss sich nicht so wichtig
nehmen und das Gefühl haben, alles selbst geschaffen zu haben.
Vermutlich habe ich gute Gene. Zudem bin ich in den Bergen aufgewachsen
und habe zeitlebens viel Sport gemacht.
Was ist Ihre nächste Herausforderung?
Alle
Sportarten die ich noch mache, klettern, biken oder skifahren, nehme ich
als Herausforderung für mich an. Ich möchte mich immer steigern. Das
ist eine Krankheit von mir. Jedes Mal, wenn ich mich auf das Velo setze,
will ich schneller sein. Ich steigere automatisch das Tempo bis ich am
Limit bin und merke, dass ich das Tempo drosseln muss.
Spüren Sie die Abnutzung Ihres Körpers nach so vielen Jahren Hochleistungssport?
Ich
habe Probleme mit den Knien und hatte letztes Jahr eine Operation am
Rücken als Spätfolge von einem Unfall bei einem Skirennen. Aber ich
frage mich, welche Leiden ich hätte, wenn ich nicht Hochleistungssport
betrieben hätte. Vermutlich wäre es viel schlimmer.
Hatten Sie früher einfach mehr Mut oder weniger Angst als andere?
Als Aktiver redet man nicht von Angst, sondern von Respekt. Erst wenn man aufgehört hat gibt man zu, dass es Angst war.
Wie konnten Sie diese Angst überwinden?
Ich habe mir immer wieder eingeredet, dass ich zu den Besten gehöre und mir deshalb nichts passieren kann.
Auch wenn Sie schwere Unfälle miterlebten?
Bis zu
einem gewissen Grad war ich ein Fatalist, ich musste es sein. Ein
Fatalist in dem Sinne, dass ich wusste, gewisse Dinge im Leben kann ich
nicht kontrollieren.
Sie sprechen von Schicksal?
Manche Dinge in meinem Leben könnten sicher Schicksal oder Vorsehung gewesen sein.
Woran glauben Sie noch?
Als ich klein war, wurde
mir der katholische Glauben eingetrichtert. Dann als Jugendlicher machte
ich mir Gedanken zur Bibel und lehnte vieles ab. Ich bin jedoch auch
relativ früh zu der Erkenntnis gekommen, dass der Mensch und die Natur
so unglaublich sind, dass es etwas Grösseres geben muss, als uns
Menschen, wie auch immer man es nennen will.
Machen Sie sich heute mehr Gedanken über den Tod?
Nein. Da drückt mein Fatalismus durch. Ich sage mir, das wird schon gut kommen. So ein schlechter Mensch bin ich ja nicht.
Sind Sie ein guter Mensch?
Es ist mein Ziel seit jeher, ein guter Mensch zu sein. Natürlich gelingt mir das nicht immer. Dann muss ich mich korrigieren.
Sie wollten ursprünglich mal Pfarrer werden. Richtig?
Ich
war Messdiener und Chorsänger. Das Suscipiat kann ich bis heute
auswendig. Da mir alles andere auf Latein zu einfach war, habe ich nur
das Suscipiat geübt. Als ich dann realisierte, dass ich meine Freundin
aufgeben müsste, begrub ich meinen Karrierewunsch.
Was würden Sie heute an der Kirche ändern?
Das Marketing der Kirche ist nicht gut. Zudem müsste sie viel mehr mit der Zeit gehen.
Sie haben schwere Schicksalsschläge erlebt. Wie haben Sie diese überwunden?
Die schlimmsten Momente in meinem Leben habe ich mit mir selber ausgemacht.
Nach dem Motto, Leid muss man allein überwinden?
Im
ersten Moment ja. Danach ist es natürlich wichtig, dass man auch die
richtigen Menschen um sich hat, in meinem Fall meine Frau und meine
Kinder. Man muss das Leid verteilen können. Aber man darf es nicht
überall verstreuen. Es soll nicht jeder mitleiden dürfen.
Sie sind seit 25 Jahren verheiratet. Was ist das Geheimrezept einer langen Ehe?
Viele
Gemeinsamkeiten! Die Verbindung zwischen Mari und mir ist unsere Liebe
zur Natur, zu den Bergen. Mari fährt Ski und klettert seit vielen Jahren
zusammen mit mir. Sie ist ein riesen Talent. Wir kletterten schon über
Steilhänge, die so schwierig waren, dass ich meine Frau vorausgeschickt
habe.
Helfen Sie im Haushalt mit?
Ich kann Risotto und Spiegeleier kochen. Sollte Not am Mann sein, mache ich alles.
Sie hatten sich 2010 getrennt und sind wieder zusammengekommen. Mit welcher Erkenntnis?
Eine Ehe läuft nicht von selbst. Man muss sich immer wieder hinterfragen, ob man mehr machen könnte für den anderen.
Machen Sie heute mehr?
Ich versuche es. So richtig geschafft habe ich es aber noch nicht.
Als Medienstar hatten Sie sicher viele weibliche Verehrerinnen?
Ja,
zum Glück. Verehrerinnen zu haben, ist doch schön. Doch so viele waren
es nicht, im Vergleich zu Schauspielern oder Sängern.
Konnte Ihnen Ihre Frau immer vertrauen?
Ja. Aber ich sehe gerne schöne Frauen. Ich bin kein Kostverächter.
Bernhard Russi
(70) wuchs in Andermatt UR auf, zusammen mit drei jüngerenGeschwistern.
Mit sieben fuhr er sein erstes Skirennen. 1970 wurde er in Gröden
Abfahrtsweltmeister, zwei Jahre später Olympiasieger im japanischen
Sapporo. 1978 trat er zurück. Seither ist der gelernte Hochbauzeichner
Pistenarchitekt, Werbeträger und Kolumnist. In einer SRF Dokumentation
entüllte er vor zwei Jahren zahlreiche Tiefschläge, die er in seinem
Leben erlitten hatte.
Sein Vater war gestorben, als er ihn am meisten
gebraucht hatte. Seine erste Frau ist in einer Lawine ums Leben
gekommen. Seine kleine Schwester ist seit frühester Kindheit
schwerstbehindert. Ein Bruder starb jung und unerwartet an einer
Infektion. Sein anderer Bruder war ein grosses Skitalent, begann aber zu
trinken. Russi ist in zweiter Ehe mit der Schwedin Mari Bergström, 58,
verheiratet. Er hat einen Sohn, eine Tochter und zwei Grosskinder.
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Datum: 14.06.2019
Autor: Carmen Schirm-Gasser
Quelle: Kirchenbote-online.ch