Kaddisch – Gebet für die Lebenden, nicht die Toten
Tieftraurig und erhebend zugleich klingt das Kaddisch. Seine grösste Bekanntheit hat es als ritualisiertes Gebet für verstorbene Angehörige. Da Tote nicht mehr beten können, loben die Angehörigen Gott an ihrer Stelle. Früher waren es traditionell die Söhne, die beteten, heute immer häufiger auch die Töchter. Ein ganzes Jahr lang beten sie es täglich, danach jeweils am Jahrestag des Todes. Aber es ist ein seltsames Totengebet, denn der Begriff Tod kommt kein einziges Mal darin vor.
Mit dem Kaddisch wird Gott gelobt
«Erhoben und geheiligt werde sein grosser Name auf der
Welt, die nach seinem Willen von ihm erschaffen wurde
sein Reich soll in eurem Leben in den eurigen Tagen und im Leben des ganzen
Hauses Israel schnell und in nächster Zeit erstehen.
Und wir sprechen: Amen!
Sein grosser Name sei gepriesen in Ewigkeit und Ewigkeit der Ewigkeiten.
Gepriesen sei und gerühmt, verherrlicht, erhoben, erhöht, gefeiert, hocherhoben
und gepriesen sei der Name des Heiligen, gelobt sei er, hoch über jedem Lob und
Gesang, Verherrlichung und Trostverheissung, die je in der Welt gesprochen
wurde,
sprechet Amen!
Fülle des Friedens und Leben möge vom Himmel herab uns und ganz Israel
zuteilwerden,
sprechet Amen.
Der Frieden stiftet in seinen Himmelshöhen, stifte Frieden unter uns und ganz
Israel,
sprechet Amen.»
Unverkennbar ähnelt das jüdische Kaddisch damit dem Gebet, das der Jude Jesus von Nazareth seine Nachfolger lehrte: dem Vaterunser (Matthäus Kapitel 6, Verse 9–13). Von der Heiligung des Namens über die Erwartung des Gottesreichs bis hin zum Lob von Gottes Herrlichkeit. Interessanterweise ist es in seiner heutigen Form wohl erst später als das christliche Gebet entstanden.
Das Kaddisch durchdringt das gesamte Leben
Das Kaddisch wird in unterschiedlichen Formen zu den unterschiedlichsten Gelegenheiten gebetet. Zu Beginn und zum Schluss des Gottesdienstes, als Totengedenken, als Abschluss des Lesens in der Tora. Damit stellen jüdische Menschen ihr ganzes Leben und Erleben immer wieder in die Hände Gottes, den sie rühmen, verherrlichen, erheben, erhöhen und feiern – oft genug gegen den äusseren Anschein oder sogar ihre innere Einstellung.
Denn selbst, wenn sie ihre Religion ablehnen, kennen und beten sie oft das Kaddisch. Gerald Beyrodt unterstreicht: «Auch der amerikanische Pop-Lyriker Allen Ginsberg, der sich sonst eher fernöstlicher Meditation, Marihuana und vor allem Sex widmete, hat ein Kaddisch-Gedicht geschrieben und im Jahr 1961 veröffentlicht – ein sehr anrührendes, langes Gedicht über seine Mutter Naomi Ginsberg.» Sein Kaddisch sei «Blues, blind auf den Plattenteller geschrien» und gleichzeitig der Traum «vom Tod als Heilmittel».
Auch andere jüdische Künstler setzten sich mit dem Gebet auseinander: Imre Kertész in seinem Buch «Kaddisch für ein nicht geborenes Kind» oder Leonard Cohen im Lied «You want it darker» auf seiner letzten CD. Überall geht es um die Frage, wie man Gott angesichts des Todes loben und wie man ohne dieses Lob sterben kann.
Das Kaddisch erinnert an Leid und Gottes Gegenwart
Oft wird das Kaddisch auch als Gedenken für die Opfer des Nationalsozialismus gebraucht, zum Beispiel als Lied in der Vertonung von Maurice Ravel. Der Holocaustüberlebende Arno Lustiger wird dabei zitiert: «Die Wege der Erinnerung sind schwierig, aber wir sollten sie alle in unserem Gedächtnis behalten.»
Doch das jüdische Gebet blickt nicht nur trauernd zurück. In seinem Spielfilm «Kaddisch für einen Freund» erzählt Leo Khasin die Geschichte des alten russischen Juden Alexander und des jungen Arabers Ali, die trotz ihrer Unterschiede Freunde werden. Als Alexander stirbt, darf Ali bei dessen Beerdigung das Kaddisch beten – anstelle des bereits verstorbenen Sohnes.
Das Kaddisch ist ein besonderes Gebet: Es ist traurig und fröhlich zugleich. Es lobt Gott und fragt ihn, wo er bleibt, um einzugreifen. Es unterstreicht die Hoffnung auf eine bessere Welt und es beginnt – wie im Film – bereits heute mit der Versöhnung. Damit ist es viel mehr als nur ein jüdisches Gebet.
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Datum: 23.06.2021
Autor: Hauke Burgarth
Quelle: Livenet