Die Hintergründe des Konflikts

Krieg in Tigray: Christen gegen Christen

Der Krieg in Tigray hat die Evangelikalen gespalten und zu starken Gefühlen gegeneinander geführt. Eine Einschätzung der Situation von Prof. Johannes Reimer.
Proteste gegen den Krieg in Tigray (Bild: Pexels)
Dr. Johannes Reimer (Bild: https://worldea.org)

Das Morden in Äthiopien nimmt kein Ende. Zehntausende von Zivilisten sind während der seit einem Jahr andauernden gewalttätigen interethnischen Unruhen in der Provinz Tigray im Norden Äthiopiens ums Leben gekommen.

Im Juni griffen amharische Rebellen die Oroma-Dörfer in der Nähe der Stadt Gimbi an und massakrierten mehr als 100 Zivilisten. Premierminister Abiy Ahmed, welcher der Volksgruppe der Oroma angehört, besuchte die Region am 18. Juni und erklärte, dass er Terroristen, die solche Verbrechen begehen, nicht dulde. Seine Regierung ist bestrebt, die Unruhen in Tigray zu beenden und die Einheit des multiethnischen Äthiopiens zu bewahren.

Was hat die Gewalt in Äthiopien ausgelöst?

Der gewaltsame Konflikt in Äthiopien begann im Jahr 2020, nachdem Premierminister Abiy Ahmed die nationalen Wahlen wegen der Pandemie verschoben hatte. Dies wurde von der alten politischen Elite, die sich in der regionalen Partei, der Tigray People's Liberation Front (TPLF), konzentriert, nicht akzeptiert. Die TPLF hatte in den 1980er Jahren den Befreiungskampf gegen das frühere kommunistische Regime in Äthiopien angeführt und war nach ihrem Sieg 1991 27 Jahre lang die führende politische Kraft bei der Gestaltung des Landes.

1995 wurde Äthiopien zu einer ethnischen Union, die als Föderation ethnischer Volksgruppen strukturiert ist und jeder Gruppe den gleichen Anteil an politischem Einfluss und Unabhängigkeit verspricht. In der Realität waren die kleineren ethnischen Minderheiten jedoch weitgehend von der politischen Macht ausgeschlossen, und die natürlichen Überschneidungen zwischen den ethnischen Gebieten förderten Spannungen in Fragen von Land und Wasser.

Die Einparteienregierung, die von einer Koalition ehemaliger ethnisch geprägter Befreiungsbewegungen gebildet wurde, regierte das Land undemokratisch. Dies trug zu den ständigen Spannungen zwischen den Regionen und der Zentralregierung in Addis Abeba bei. Die TPLF, eine überwiegend amharische und koptisch-christliche Bewegung, dominierte die Koalition und damit auch die Regierung.

Spannungen nach Regierungswechsel

Seit 2015 haben Millionen von Äthiopiern gegen die von der TPLF geführte Zentralregierung protestiert. Anfang 2018 trat Premierminister Hailemariam Desalegn zurück und Abiy Ahmed wurde der erste Premierminister, der Oromo ist und vom Islam zum evangelikalen Pfingstchristentum konvertiert ist.

Ahmed sprach sich für einen Strukturwandel in Äthiopien aus, indem er den ethnischen Föderalismus abschaffte und eine Föderation der Regionen einführte. Er integrierte verschiedene regionale und ethnische politische Bewegungen in die neu gegründete Prosperity Party und minimierte die Rolle der alten Koalition der Befreiungsbewegungen wie der TPLF. Die TPLF weigerte sich, sich zu integrieren, verliess die alte Koalition und bildete eine Opposition, die sich auf eine Regionalregierung in Tigray konzentrierte und sich klar gegen den politischen Kurs von Ahmed und seiner Wohlstandspartei stellte. Die alte Elite verlor ihre Macht in Addis Abeba, bildete aber eine neue Kraft, um von Tigray aus zurückzuschlagen.

Es folgten Monate politischer Spannungen und am 4. November 2020 begann die äthiopische Armee eine Militäroperation gegen die TPLF als Reaktion auf einige Angriffe der Befreiungsfront gegen die Nationalen Streitkräfte. Bald darauf begann ein ausgewachsener Bürgerkrieg. Letztes Jahr kamen die Kämpfer der TPLF bis auf 400 km an Addis Abeba heran, aber der Armee gelang es zusammen mit eritreischen Kräften, sie nach Tigray zurückzudrängen. Nach Angaben von Amnesty International und der Evangelischen Allianz Äthiopien haben beide Seiten zahlreiche Verbrechen an der Zivilbevölkerung begangen.

Dürre, Überschwemmungen und Hunger

Die politische Krise und der Bürgerkrieg in Tigray sind nicht das einzige Übel, dem die Menschen in Äthiopien heute ausgesetzt sind. Die Pandemie hat die Wirtschaft geschwächt, und eine Dürrekrise, gefolgt von verheerenden Regenzeiten und Überschwemmungen, hat die nationale Nahrungsmittelproduktion auf ein Minimum reduziert. Millionen von Männern, Frauen und Kindern sind in Äthiopien und anderen Regionen am Horn von Afrika von Hunger und Unterernährung betroffen. Schätzungen zufolge leiden etwa 14 Millionen Menschen, darunter 5,5 Millionen Kinder, an Hunger und Unterernährung.

Darüber hinaus hat der Krieg in der Ukraine aufgrund der hohen Abhängigkeit von Getreideimporten aus der Ukraine und Russland grosse Auswirkungen auf Äthiopien und das Horn von Afrika insgesamt. Russische Sanktionen gegen Getreideimporte haben die Versorgung kurz nach Beginn des Krieges in der Ukraine im Februar 2022 unterbrochen, aber auch das UN-Nahrungsmittelhilfeprogramm ist davon betroffen.

Die humanitäre Lage ist kritisch. Jüngste Schätzungen gehen davon aus, dass bald 23 Millionen Äthiopier im ganzen Land humanitäre Hilfe und Nahrungsmittelhilfe benötigen werden. In einigen Gebieten ist die Lage jedoch besonders kritisch. Die Menschen im Süden des Landes haben immer noch mit den negativen Auswirkungen der Dürre von 2017 zu kämpfen, die zu einer massiven Vertreibung der Landbevölkerung auf der Suche nach Wasser und Grasland führte. Und aufgrund des Krieges hat die Regierung die humanitäre Hilfe für Tigray blockiert, was den Hunger weiter verschärft hat.

Die Gefahren liegen auf der Hand

Was passiert, wenn der Konflikt eskaliert? Wird es zu einem Zusammenbruch des äthiopischen Vielvölkerstaates mit 100 Millionen Einwohnern kommen? Wird die Krise in einem so hochexplosiven Kontext weitere nationale und ethnische Konflikte auslösen? Äthiopien ist sowohl wirtschaftlich als auch politisch der wichtigste Staat am Horn von Afrika. Die Afrikanische Union hat ihren Sitz in Äthiopien und das Land ist ein geistiger Riese. Kein anderes Land in Afrika, vielleicht sogar in der ganzen Welt, hat in den letzten Jahren eine Erweckung erlebt, die mit Äthiopien vergleichbar ist.

Äthiopien ist eine der ältesten christlichen Nationen der Welt und geht auf das Jahr 330 nach Christus zurück. Die koptisch-orthodoxe Kirche ist immer noch die grösste religiöse Vereinigung des Landes. Es gibt aber auch zahlreiche protestantische evangelische Konfessionen in Äthiopien, wie die lutherische «Mekane Jesus»-Kirche mit etwa fünf Millionen Mitgliedern oder die mennonitische Mesere Kristos-Kirche, die grösste Mennonitenkirche der Welt. Baptisten und Pfingstkirchen machen den Rest der rund 14 Millionen Protestanten im Land aus. Diese Kirchen verzeichnen ein jährliches Wachstum von 6,5 Prozent und sind in der Mission sehr aktiv.

Christliches Zeugnis in Gefahr

Dennoch beeinträchtigt die wirtschaftliche und politische Krise in Äthiopien das Zeugnis der Evangelikalen in mehrfacher Hinsicht.

Erstens gibt es überall in Äthiopien Evangelikale, und sie neigen im Allgemeinen dazu, Premierminister Ahmed zu unterstützen, der selbst ein Pfingstchrist ist. Aber nicht alle von ihnen. Die Evangelikalen in Tigray beispielsweise unterstützen weitgehend die TPLF und beteiligen sich sogar an den militärischen Aktionen der Rebellen gegen die Regierung in Addis Abeba. Der Krieg hat die Evangelikalen gespalten und starke Gefühle gegeneinander hervorgerufen. Und wo es keine Einigkeit gibt, wird das Zeugnis erheblich geschwächt.

Zweitens sehen sowohl die ehemalige koptisch-orthodoxe Elite als auch die muslimischen Stämme die Evangelikalen in einem kritischen Licht. Die Tatsache, dass 400'000 Muslime in den letzten Jahren evangelische Christen geworden sind, hat im Süden des Landes zu mehreren Verfolgungswellen geführt. Die veränderte politische Situation könnte zu weiteren Hindernissen für die Evangelisation im Land und für die Mission ausserhalb Äthiopiens führen.

Drittens werden die Unruhen in Äthiopien das Friedens- und Versöhnungszeugnis der äthiopischen Kirchen erheblich einschränken. Das Horn von Afrika ist, politisch gesehen, ein Pulverfass. Es kann jederzeit zu Konflikten unterschiedlicher Art kommen. Die äthiopischen evangelikalen Christen haben in der Region zur Versöhnung beigetragen. Wenn sie nicht in der Lage sind, multiethnische Konflikte in ihrem eigenen Land zu lösen, könnte es für sie schwieriger werden, dies in ähnlichen Situationen in der weiteren Region zu tun.

Jetzt ist Gebet nötig

Dies und mehr sollte Evangelikale auf der ganzen Welt motivieren, für Äthiopien zu beten und um Weisheit sowohl für die Regierung von Premierminister Ahmed als auch für die Führung der verschiedenen christlichen Kirchen zu bitten. Es ist an der Zeit, für Äthiopien Fürbitte zu halten und für funktionierende Friedensbemühungen zu beten, die die Konfliktparteien und Stämme, religiösen Gruppen und Kirchen an einen Tisch bringen. Jesus ist unser Friede. Millionen von Äthiopiern kennen ihn. Jetzt ist es an der Zeit, im ganzen Land Frieden zu schaffen. Unsere Gebete werden gebraucht.

Zum Autor

Johannes Reimer leitet das Netzwerk für Frieden und Versöhnung der Weltweiten Evangelischen Allianz.

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Datum: 22.07.2022
Autor: Johannes Reimer / Reinhold Scharnowski
Quelle: Christian Today / Übersetzt und bearbeitet von Livenet

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