Gottfried Locher rechnet mit reformierter Landeskirche ab
Auffällig an seinem Gastbeitrag in der Sonntagzeitung ist schon der Titel, den er vermutlich selbst so gesetzt hat: «Warum ich als Christ aus der 'Kirche' austrete». Und er macht gleich im ersten Satz deutlich: «In der weltweiten Kirche bleibe ich bis zu meinem hoffentlich seligen Ende.» Ihm ist wichtig, dass er aus dieser «sogenannten Landeskirche» austritt, die eine «staatliche Körperschaft» (zumindest im Kanton Bern) ist.
Die theologische Schwäche der Landeskirchen
Die Vorgänge rund um den erzwungenen Rücktritt als Präsident der EKS haben Spuren hinterlassen, sodass er sich heute gar als mitschuldig am Zustand der reformierten Landeskirchen sieht. Er knüpft bei den Kirchenaustritten generell an, die oft mit dem Begriff «irrelevant» begründet werden. «Deutlicher knallt man keine Bankrotterklärung auf den Abendmahlstisch», so Locher dazu, dessen Beitrag seine rhetorische Schlagkraft eindrücklich belegt. Zum Beispiel damit: «Die Landeskirchen liegen auf der theologisch geriatrischen Abteilung.» Die dramatische Schwäche dieser Kirche liege im Inhalt ihrer Verkündigung. Statt Gnade, Christus und Bekenntnis wie bei Zwingli gehe es ihr heute um Klima, Gender, Migration ... – alles, nur nicht den lieben Gott.
Mehr als moralische Gründe
Man kann diese Kapuzinerpredigt als Nachlass eines Frustrierten sehen, der als hochtalentierter Theologe rasch die schnelle Karriereleiter bis zum Präsidium aufgestiegen und dann brutal gestürzt worden ist. Ihm ist bewusst geworden, dass er im Zeitalter von #meToo keine weitere Chance in dieser Kirche hat, wenn er von einer Frau der sexuellen und spirituellen Grenzverletzung bezichtigt worden ist. «Für einen Kirchenmann bedeuten solche Vorwürfe die sofortige Handlungsunfähigkeit.»
Die Vermutung liegt jedoch nahe, dass seine Entfernung aus dem Amt nicht nur moralische Gründe, sondern dass auch die Machtfrage dabei eine Rolle gespielt hat. Locher: «Man hat die Attacke im Geheimen vorbereitet.» Er bestreitet auch die wiederholte Behauptung, er habe sich nicht zu den Anklagen geäussert: «Meine Stellungnahme hatten die Verantwortlichen innert zehn Tagen in den Händen.»
Die Kirche erneuern
Ihm ist zugute zu halten, dass er während seiner Amtszeit Initiativen gefördert hat, die das Ziel haben, die Kirche aus dem Schatz des Glaubens heraus zu erneuern, wie zum Beispiel in der Kirche von England. Er hat sich für das Zentrum «Glaube und Gesellschaft» eingesetzt. Er wird aber auch mitbekommen haben, wie schwer es solche Initiativen bei den Reformierten haben, schon aus strukturellen Gründen – und weil viele Verantwortliche in den Gemeinden von einem sehr traditionellen Kirchenbild geprägt und misstrauisch gegenüber Veränderungen sind.
Freier Wettbewerb der Religionen
Oder wie er es selbst sagt: «Ich wollte weg von den frommen Sprüchen ... hin zur geraden ehrlichen Sprache. Hin zur faszinierenden Gestalt Jesus von Nazareth. Dafür habe ich mich eingesetzt.»
Er deutet an, dass er zusammen mit seiner Familie eine andere kirchliche Heimat gefunden hat. Dass es die katholische sein könnte, wie vermutet wird, ist wenig wahrscheinlich. Denn auch sie sei ein Relikt aus vergangener Zeit, die erst wieder blühen werde, wenn sie «ihre steuerfinanzierte Selbst-Protestantisierung aufgibt...». Sein Fazit lautet: «Lebendiges Christentum muss frei atmen können. Ohne Bevorzugung. Schaffen wir endlich einen fairen Wettbewerb der Religionen in der Schweiz.»
Christus entdecken
Sein Schlusswort könnte nachhallen: «Christsein hängt nicht am Staatskirchenrecht. Christsein hängt an Christus. Am besten entdeckt darum jeder und jede zuerst einmal ganz für sich selbst diesen spannenden, anstrengenden, provokativen, ungeduldigen, nervenaufreibenden, liebevollen, schwachen Mann.»
Der Verfasser dieses Kommentars ist Synodaler der Reformierten Landeskirche Aargau. Sachbezogene Kommentare zu diesem Text sind erwünscht, wir bitten aber, auf persönliche Angriffe gegen unsere Autorinnen und Autoren zu verzichten.
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Datum: 05.04.2022
Autor: Fritz Imhof
Quelle: Livenet