Weltweiter Paradigmenwechsel

Das Ende der Waisenhäuser?

Von den weltweit 140 Millionen Waisenkindern haben nur zehn Prozent beide Elternteile verloren.
Christen sind in weiten Teilen der Welt die wichtigsten Anbieter von Waisenbetreuung. In den letzten zehn Jahren haben sich der Fokus und die Methoden der Waisenfürsorge allerdings weltweit dramatisch verändert.

Für Emmanuel Nabieu war es wie ein Heimkommen, als er seine Arbeit im «Child Rescue Center» in Sierra Leone begann: 16 Jahre zuvor war er als Kind in das Waisenhaus aufgenommen worden. Der Vater war tot, von der Mutter wurde er getrennt, ein Onkel konnte nicht für ihn sorgen. Das Waisenhaus war seine letzte Chance. «Ich lebte in einem schönen Kinderheim mit allen Annehmlichkeiten», sagte Nabieu gegenüber «Christianity Today». «Aber ich sehnte mich wirklich danach, geliebt zu werden.»

Während seines Studiums erfuhr Emmanuel, dass 80 bis 90 Prozent der Waisenkinder – wie er selbst – mindestens ein lebendes Familienmitglied hatten, das sich mit den richtigen Mitteln und der richtigen Unterstützung um sie kümmern könnte. «Die Waisenhäuser ... dienten nicht wirklich Waisenkindern», so Nabieu. «Sie dienten nur den Kindern aus armen Familien.»

Nabieu schlug eine radikale Änderung vor. Das Child Rescue Center müsse den Kindern kein neues Zuhause geben. Es müsse herausfinden, wie man Familien dabei helfen könne, für ihre eigenen Kinder gut zu sorgen. Heute hat sich das Zentrum gewandelt. Es heisst jetzt Child Reintegration Centre, und seine Programme konzentrieren sich darauf, Familien zu helfen, finanziell unabhängig zu werden. Dazu gehören Kurse, Finanzkredite und Mentoring, um den Menschen das nötige Rüstzeug für den Erfolg zu vermitteln.

Von Waisen zu Söhnen und Töchtern

Das Beispiel aus Sierra Leone steht stellvertretend für einen tiefgreifenden Paradigmenwechsel in der Betreuung von Waisenkindern. Im letzten Jahrhundert gründeten christliche Organisationen immer mehr Waisenhäuser als schnelle Lösung für die wachsende Zahl verlassener Kinder in armen Ländern, in denen korrupte oder ineffiziente Regierungen keine angemessenen sozialen Dienste bereitstellten. Dies hat dazu geführt, dass Christen heute in vielen Teilen der Welt der wichtigste Anbieter von Waisenbetreuung sind. Und wie in Sierra Leone findet in den letzten zehn Jahren eine deutliche Abkehr statt von «Anstalten und Etagenbetten» hin zu ganzheitlicher Integration in Familien, wo immer es möglich ist.

Kindern, die ein klassisches Waisenhaus im Alter von 18 Jahren verlassen, geht es häufig – vor allem in sozial schwächeren Ländern – nicht gut. Ohne die Unterstützung einer Familie verfallen sie häufig den Drogen, der Prostitution und dem Selbstmord. Viele Waisen-Organisationen haben darum ihren Fokus verändert und damit begonnen, biologische Familien zu stärken und Kinder nur als letzten Ausweg zu akzeptieren.

Diese Art der Unterstützung ist nach Ansicht von Experten genau das, was benötigt wird, um gefährdeten Kindern zu helfen. Von den weltweit 140 Millionen Waisenkindern haben nur zehn Prozent beide Elternteile verloren. Im Jahr 2019 verabschiedeten die Vereinten Nationen eine Resolution, die der familienbasierten Betreuung Vorrang einräumt und die Abschaffung aller Waisenhäuser oder «Anstaltsheime» fordert. Alle Mitgliedsstaaten haben die Resolution unterzeichnet, und Organisationen auf der ganzen Welt haben Änderungen vorgenommen.

Vom Heim zur Familie

Elli Oswald, Geschäftsführerin von Faith to Action, einer Gruppe, die sich für ein Umdenken in der Waisenbetreuung einsetzt, erklärt, es gebe eine «wachsende Bewegung von Christen, die sich von der übermässigen Inanspruchnahme der Heimunterbringung abwenden und sich dafür einsetzen, dass Kinder gar nicht erst in ein Heim kommen». Forschungsergebnisse zeigten, dass die Heimunterbringung zu mehr Armut und Beziehungsproblemen im Erwachsenenalter führe. «Die meisten Kinder, die eine längere Zeit in Waisenhäusern verbringen, haben anschliessend wirklich zu kämpfen», sagte sie. «Wir wissen, dass Kinder am besten in der Liebe und Fürsorge von Familien aufwachsen.»

Historisch gesehen wurden Waisenhäuser schnell errichtet, um auf eine überwältigende Not zu reagieren. Wohlmeinende Menschen sahen sich bei Kriegen, Seuchen oder anderen Katastrophen gezwungen, sofort zu handeln, auch wenn sie sich der möglichen Nachteile bewusst waren. Aus heutiger Sicht haben Waisenhäuser aber häufig Symptome eines Problems bekämpft, anstatt das Problem selbst anzugehen. «Armut ist der eigentliche Grund dafür, dass Kinder in Waisenhäusern landen», sagt Oswald, «und wenn wir Familien dazu bringen können, sie zu unterstützen, sind sie meist auch in der Lage, für diese Kinder zu sorgen.»

Die Bibel macht deutlich, dass Christen sich um Waisen kümmern sollen, und «der beste Weg, das zu tun, ist, dafür zu sorgen, dass sie in Familien leben – im Grunde genommen werden sie von Waisen zu Söhnen oder Töchtern», sagte Oswald.

Alle Möglichkeiten nutzen

Das soll nicht heissen, dass Heime nie die Lösung sind. Oswald zufolge gibt es Situationen, in denen es für ein Kind nicht sicher ist, nach Hause zu gehen. Und es gibt Fälle, in denen ein Kind wirklich völlig allein ist. «Sicher, Heimunterbringung sollte keine Form von Internat für Familien sein, die nicht die Mittel haben, um für ihre Kinder zu sorgen», erklärt David Nowell, Präsident des brasilianischen Waisenhauses Hope Unlimited. Aber Nowell arbeitet mit Strassenkindern, die in Brasilien von Geschäftsleuten oft ermordet werden, weil sie ein «öffentliches Ärgernis» darstellen. «Diese Kinder sind hochgefährdet», sagt er. «Sie sind durch ihr Leben so traumatisiert, dass sie es nicht schaffen, wenn man sie in einer traditionellen Familie unterbringt. Es handelt sich um Kinder, die schwer missbraucht, zum Sexhandel gezwungen oder als Kindersoldaten eingesetzt wurden.» Solche Kinder brauchten eine Art von Betreuung, die eine traditionelle Familie nicht leisten könne. Darum bildet «Hope Unlimited» Familiengruppen, die Kinder lernen einen Beruf und auch nach dem Schulabschluss bleiben die Gruppen zusammen: «Sie lernen, unabhängig zu leben, und nach einem Jahr nehmen sich zwei oder drei von ihnen zusammen eine Wohnung», sagte Nowell. «Ja, jedes Kind braucht eine Familie. Aber einige Kinder brauchen die Art von familiärer Betreuung, die ein Wohnprogramm bieten kann, und wir sind es diesen Kindern schuldig, ihnen die Chance zu geben, sich zu entwickeln.»

Neue Vision für Waisenhäuser

Zurück nach Sierra Leone: Der neue Ansatz «Familienförderung statt Waisenhaus» war erfolgreicher als die Mitarbeiter des Child Reintegration Centre es je erhoffen konnten. Die neuen Programme waren kosteneffizienter und ermöglichten es, weit mehr Kindern zu helfen. Heute hilft die Organisation nicht mehr nur etwa 300 Waisenkindern, sondern fast 2'000 Kindern in mehr als 400 Familien. «Was ich früher als Waisenhaus erlebte, kann ein kraftvolles Werkzeug für gesellschaftliche Veränderung sein», erklärt Nabieu. «Diese Einrichtungen können zu wirksamen Quellen der Hoffnung und Stabilität für gefährdete Kinder und Familien werden. Es geht nicht nur um ein Kind. Es geht um eine ganze Familie als Einheit. Es geht um die Gemeinschaft.»

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Datum: 13.03.2024
Autor: Reinhold Scharnowski
Quelle: Livenet / Christianity Today

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