Eine Schwiegermutter wie Noomi
«Papa, wie hiess die Schwiegermutter von Adam?» «Er hatte keine Schwiegermutter. Er lebte im Paradies.» Schwiegermutterwitze. Man hört sie, erzählt sie lachend weiter. Es gibt Dinge im Leben, die nimmt man besser mit Humor. Die Schwiegermutter ist die andere Frau im Leben des Geliebten. Die Rivalin. Die andere Frau, die ihn vergöttert. Da bimmelt das Hochzeitsglöckchen – und mit einem «Ja, ich will!» ist man ruck-zuck auf Gedeih und Verderb mit einer Schwiegermutter verbandelt. Für die guten und die schlechten Tage. Manchmal hat man Glück und verliebt sich nicht nur in den Auserwählten, sondern auch in die Schwiegermutter. Wie Ruth in Noomi. Auch wenn es nur wenig gute und viele schlechte Tage in ihrer Familiengeschichte gibt. Unheilbare Diagnosen, Schreckensnachrichten, Überlebenskampf, Sterbebetten, Grabesstille, ein Todesstoss fürs Herz und ein Trümmerhaufen an Zukunft.
Fremdsprache und Asylantrag
Zurück bleiben Noomi und ihre beiden Schwiegertöchter. Drei Witwen. Und Trauer in Endlosschleife. Als hätte Noomi nicht wahrlich schon genug getrauert im Leben. Wie damals um die alte Heimat zum Beispiel. Schlimmes muss geschehen, bevor man alles zurücklässt und flieht, mit Sack und Pack eingereiht in den Flüchtlingsstrom, sich nicht vom Grenzzaun aufhalten lässt und irgendwo einen Asylantrag in unverständlicher Sprache stellt. Man hält alles aus, die Stammtischparolen, den Rassismus, die befremdliche Kultur, die ewige Aussenseiterrolle. Was bleibt einem auch anderes übrig, wenn der Rückweg vom Schicksal abgeschnitten ist?
Nur Noomis Jungs finden erstaunlich schnell in den fremden Alltag, sprechen die neue Sprache fliessend, quasi über Nacht, helfen jetzt beim Ausfüllen der Formulare, während Noomi staunend auf die rätselhaften Seiten voll Bürokratie starrt. Dann rennen die beiden wieder davon, finden andersgläubige Spielkameraden, irgendwann halbstarke Freunde und schliesslich wunderschöne Frauen, die den Söhnen so vertraut scheinen und ihr so exotisch. «Kein Ideal», gibt sich Noomi bescheiden glücklich, «aber zumindest eine Zukunft, die wieder gnädig gestimmt scheint.» Und so verwurzeln sich alle schliesslich in fremder Erde.
Jetzt, nach drei Toten, gibt es keinen Boden mehr unter den Füssen. Drei Mal stehen sie in erster Reihe am Grab. Drei Mal der schmerzliche Verlust von Liebhabern und Versorgern. Drei weinende Frauen bleiben zurück und ein noch nicht abbezahltes Haus voller Existenzangst. An der langen Familientafel löffelt die Traurigkeit stumm jede Mahlzeit mit. Und als Noomi nach vielen Tagen endlich ihre Worte wiederfindet, da sprudelt nichts als kummervolles Heimweh aus ihr heraus. Da ist es wieder, so stark und sehnsüchtig. Jetzt, da die Geliebten gegangen sind, braucht das Herz so dringend etwas Vertrautes, gewohnte Gebete, verwandte Gesichter, vermisstes Marktgetümmel, bekannte Gerüche und Strassen – einfach Heimat!
Rückreise mit kleinem Gepäck
«Ich werde nach Hause gehen», sagt Noomi und ihre Lippen zittern entschlossen. Viele Erinnerungen, nur wenige Habseligkeiten, Rückreise mit kleinem Gepäck gibt es zu packen. Dann steht Noomi an der Haustür, drückt die Schwiegertöchter zum Abschied. «Ihr bleibt hier. Ihr werdet euch neu verlieben und eines Tages wieder glücklich sein.» Die eine zögert. Hält Noomis Hand und will nicht loslassen. Doch schliesslich nickt sie und bleibt. Das Taxi hupt. Die andere nimmt Noomis Koffer. Und dann den eigenen Mantel vom Haken. Sie sieht der Schwiegermutter fest in die Augen und entscheidet sich noch einmal für die Liebe, die sie einmal versprochen hat. «Wo du hingehst, werde ich auch hingehen.» Jetzt zittern auch ihre Lippen entschlossen.
Noomis erste Euphorie, zu Hause zu sein, wird schnell von der Realität erdrückt. Ruth krempelt die Ärmel hoch. Gelegenheitsjobs lenken vielleicht vom Kulturschock und vom Vermissen ab, sie reichen aber kaum zum Leben. «Morgen haben wir mehr Glück», spricht man sich Mut zu und lächelt tapfer. Doch auch morgen bleibt alles beim Alten.
Man interessiert sich
Ihm ist Ruth sofort aufgefallen. Sie sticht heraus aus der Menge der ungewaschenen Erntehelfer. Boas besitzt viel Grund und Boden hierzulande und Gerüchten zufolge soll diese Neue sogar weitläufig angeheiratete Verwandtschaft sein. Ein Hauch von Fremde umgibt sie, ungewöhnlicher Schmuck, der gebrochene Akzent. «Wer ist diese Ausländerin?», fragt Boas betont beiläufig einen Angestellten und lässt sich die ganze Geschichte erzählen. «Erstaunlich», meint er schliesslich und geht zur Tagesordnung über. Dabei will er eigentlich noch so viel mehr erfahren, wissen, warum diese junge Frau ihr eigenes Glück hintenanstellt; statt eine neue Familie zu gründen, sich um ihre Schwiegermutter sorgt. Er will von ihrem Kummer hören und von ihrem fernen Zuhause. Und so erklärt Boas neuerdings vieles zur Chefsache, was sonst die Angestellten erledigen. Er ist viel vor Ort auf den Feldern, beobachtet Ruth von weitem oder verbringt öfter mal die Mittagspause mit ihr. Er lernt ihre Arbeitsmoral schätzen und ihre Freundlichkeit. Gleichzeitig kennt er sich gar nicht wieder. Er, der begehrte Junggeselle, der normalerweise bei Frauengeschichten immer so zurückhaltend ist. Jeder gegenüber, die ihm schöne Augen macht. Er, der von der Familie schon lange als Spätzünder in Sachen Liebe belächelt wird.
Ruth will es wissen
Als Ruth schliesslich eines Nachts spät endlich den Beziehungsstatus geklärt haben will, da muss er sich eingestehen: Diese fremde Schöne hat sein Herz erobert. Am liebsten würde er sie vom Fleck weg heiraten. Er kann sein Glück kaum fassen und scheut weder die aufwendige Bürokratie noch das Gerede der Leute. Nein, sie ist vielleicht nicht die offensichtliche Wahl, aber für ihn ist sie die einzig Richtige. Eines schönen Tages ist es dann endlich so weit. «Ja, ich will», verspricht Ruth ihm und dieser Familie noch einmal und ihre Lippen zittern wieder entschlossen. Doch diesmal vor Glück. Und Boas sieht die Tränen in ihren Augen und weiss: Diese Frau wird ihr Wort halten. Denn sie hat es schon zweimal bewiesen, in den guten und den schlechten Tagen, für die Liebe und eine bedeutsame Familiengeschichte. Manchmal macht das Glück einen Umweg und ruft uns erst, zum Glück eines anderen zu werden, um unser eigenes zu finden. Und vielleicht kommt das Glück manchmal als Schwiegermutter daher.
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Datum: 28.08.2024
Autor:
Daniela Helfrich
Quelle:
Magazin Faszination Bibel 03/2024, SCM Bundes-Verlag