Ein Jahr nach dem Aufbruch

Wie weiter in der arabischen Welt?

Die Umbrüche in der arabischen Welt haben 2011 die Welt in Atem gehalten. Ihr vorläufiges Ergebnis ernüchtert. Doch das Streben nach Freiheit, von Gott in die Herzen gelegt, bleibt auch in diesem Jahr aktuell.
Arabischer Frühling

Die Wahlen in Tunesien und Ägypten haben das Ergebnis gebracht, das algerische Militärs 1991 nicht akzeptierten: Die Mehrheit will Muslime an der Regierung, die mit den Geboten ihrer Religion das soziale und staatliche Leben insgesamt regeln wollen. Ins Machtspiel treten in Ägypten auch die saudi-arabisch orientierten Salafisten ein. Damit stehen dem Land am Nil weitere Stürme bevor.

Auswandern oder bleiben?

Während im Wüstenkönigreich der Saudis Einheimische nicht Christen werden und Ausländer sich nicht als Christen versammeln dürfen, hat Ägypten eine starke – und stark irritierte – christliche Minderheit. Ohne Öl wäre der salafistische Islam der Saudi-Araber kein Exportschlager. Doch mit den Petrodollars bringen die Saudis viele Muslime weltweit auf ihre intolerante Scharia-Linie. Von den Christen am Nil wollen deshalb viele auswandern.

Die Sieger und die Profiteure

Die Islamisten profitieren vom Aufstand der aufmüpfigen städtischen Jugend gegen Korruption und Zwang, dem Protest gegen Armut und Perspektivlosigkeit. Die Wahlen haben junge, urbane Tunesier und Ägypter im Verlangen nach Freiheit erstritten. Nach dem Abgang der alten Herrscher greifen nun jene nach den Hebeln der Macht, die nicht mit säkularer Vielfalt, also weniger Islam im öffentlichen Leben, sondern mit mehr Islam in die Zukunft gehen wollen (um es stark vergröbernd zu sagen).

Islamisten berechenbar?

Entscheidend für diesen Wahlausgang waren vier Folgen der bisherigen Unterdrückung: Tiefes Misstrauen in der Politik, ein positives Image der sozial aktiven Islamisten, die politische Zersplitterung der Erneuerer sowie Angst vor der Anarchie. Von ihr umgetrieben, meinen Millionen Araberinnen und Araber, die alte Religion werde am ehesten von Untaten abhalten. Eine Tunesierin, der hemmungslosen Abzockerei der Mächtigen müde, äusserte bei der Wahl die Hoffnung, dass die Islamisten nicht stehlen…

«Das türkische Vorbild»

Fraglich ist, ob die arabischen Islamisten den türkischen Weg, von Erdogan angepriesen, kopieren können. Atatürk, der Gründer des modernen türkischen Staates, hatte den Islam nach 1920 zurückgebunden und das Land autoritär nach Westen ausgerichtet. Neunzig Jahre später ist die Religion Mohammeds zwischen Istanbul, Aden und Rabat viel virulenter, das (teils demokratische) Aufbegehren stärker, die Entwicklung wegen der Bevölkerungsexplosion und der neuen Medien sowie islamistischer Agitation weniger steuerbar.

Rückständige Region

Was gibt die herkömmliche islamische Identität der meisten Araber (dass Gott sich in ihrer Sprache endgültig offenbart und Mohammed den Schlüssel für die Zukunft der Menschheit gegeben hat) im 21. Jahrhundert an Beharren und an Flexibilität her? Nicht nur der «Westen», sondern auch Ostasien, Lateinamerika und Indien hängen die arabische Welt durch ihre wirtschaftliche Dynamik ab. Nur dort, wo sie Ölmilliarden verpulvern können (der höchste Turm der Welt ist in Dschidda geplant), leiden Araber nicht unter ihrer Rückständigkeit. Aber auch dort können sie Spannungen mit Minderheiten nicht konstruktiv bewältigen; die Saudis sandten Panzer nach Bahrain.

Minderheiten als Test

Die Unterdrückung von Schiiten am Golf, die Granaten auf aufbegehrende Syrer, die Vertreibung der Fatah aus Gaza (2007), die traditionelle Vernachlässigung und Unterdrückung der Berber durch das algerische Regime, endlich die Ablehnung des Judenstaats Israel: Sie spiegeln alle den Unwillen im arabischen Raum Minderheiten zuzulassen und ihnen dauerhafte, eigenständige Entfaltung zu gewähren. In der Nachbarschaft sieht es kaum besser aus: Zu erwähnen sind der anhaltende, furchtbare Staatsterror der Mullahs gegen freiheitsdurstige Iraner, Ankaras Schläge gegen Kurden, Hetze und Gewalt gegen Minderheiten in Pakistan und die Menschenverachtung der afghanischen Taliban.

Fata Morgana

Aber als Gegenbild zur offenen und vielleicht chaotischen Zukunft, welcher die Welt entgegenzudriften scheint, ist verführerisch attraktiv, was Islamisten den verunsicherten und desinformierten Arabern vor Augen malen: Eine zunehmend gerechte und heile Gesellschaft, durch die auf den Gesetzgeber Mohammed zurückgehende Scharia mit göttlicher Autorität geordnet und geeint. Aus christlicher Sicht ist diese Vision eine Fata Morgana, ein Trugbild – wer in der Wüste auf sie zugeht, um seinen Durst zu stillen, wird durstig bleiben.

Bedrängte Christen

Wenn das Jahr 2011 die ägyptischen Kopten in den Fokus gerückt hat, darf doch nicht vergessen werden, dass die Christen im Nahen Osten dramatische Jahre hinter sich haben. Im Libanon verloren sie Macht und Einfluss, während die Hisbollah ein Staat im Staat wurde. Im Irak stehen einige der ältesten Kirchen der Welt; Terroristen haben Hunderttausende Christen in die Flucht getrieben und ihres Besitzes beraubt. Die Auswanderung aus den Palästinensergebieten hält an; Syriens Christen, die sich mit Assads Regime arrangierten, leben neuerdings in existentieller Angst.

Fokus auf Ägypten

Nicht ohne Grund blickt die Region nach Ägypten, wo die starke Minderheit der Kopten auf mehr Freiheit pocht. Die Staatsform, die am Nil geschmiedet wird, könnte ausstrahlen. Das Ringen um die Grundlage des Staats geht auf Biegen und Brechen: Können Ägypter einander als gleichberechtige Landsleute akzeptieren – oder bleiben die alten Schranken, welche die Christen degradieren? Mit einer Mehrheit von Muslimbrüdern und Salafisten im Parlament sind harte Konfrontationen programmiert.

Folgt auf den Frühling ein Sommer?

Die Schlagzeilen, welche Islamisten seit Monaten machen, sollten den Blick nicht verstellen auf untergründige Entwicklungen: Millionen Araber suchen nach neuen Perspektiven – auch jenseits des Islam. Viele interessieren sich für Isa, den Sohn der Maria, den Propheten, an den die Christen glauben. Sollte der arabische Frühling nicht zu einer Blüte der Freiheit, sondern direkt in einen Winter führen (der Weg des Iran wirkt abschreckend), wird sich dieses Suchen nach Wahrheit und nach persönlichem Heil verstärken. Kein Regime wird es auf Dauer unterdrücken können.

Lesen Sie auch:
Tausende Muslime werden jede Woche Christen

Bücher zum Thema:
Christine Darg: Wunder unter Muslimen
Kurt Beutler: Warum gewisse Dinge schief laufen

Datum: 03.01.2012
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet

Werbung
Livenet Service
Werbung