Stefanie Linner

«Klar verstehe ich Nächstenliebe weltweit»

Stefanie Linner ist Koordinatorin einer Initiative, die Mut machen will, positive Veränderungen für Menschen und Umwelt anzustossen. Weltweit setzt «Micha» sich gegen Armut ein. Meist empfindet Stefanie ihre Arbeit als Privileg, manchmal als Kampf...
Stefanie Linner (Bild: andersLEBEN)
Zwei Frauen arbeiten auf einer Reisplantage in Indonesien.
Das andersLEBEN-Magazin

Der Gründungsvers der Micha-Initiative in Deutschland steht in Micha Kapitel 6, Vers 8: «Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was der Herr, dein Gott von dir erwartet: nichts anderes als dies: Gerechtigkeit üben, Gemeinschaft lieben und aufmerksam mitgehen mit deinem Gott.»

Anja Schäfer vom SCM-Magazin «andersLEBEN» traf sie zum Gespräch:

Euer Name leitet sich von einem Bibelvers ab und ihr richtet euch vor allem an Christen und Gemeinden. Hast du den Eindruck, eure Themen sind dort angekommen?
Stefanie Linner: Ganz unterschiedlich. Manche Kirchen und Menschen sind da schon seit Jahrzehnten dran. Da spielt das schon immer eine Riesenrolle. Andere Gruppierungen haben eine ganz andere Prägung. Da ist nicht so sehr im Blick, dass Gott für die ganze Menschheit da ist und für die ganze Schöpfung mit Tieren, Pflanzen, Steinen. Deshalb ist es für uns immer noch was Besonderes, wenn engagierte Christen andocken und sagen: Klar gehören Schöpfungsbewahrung und Nächstenliebe zusammen und klar versteh ich Nächstenliebe weltweit.

Ein Schlagwort eurer Arbeit ist Gerechtigkeit. Worum geht es da?
Hinter Gerechtigkeit steckt die Frage: Was wird uns Menschen gerecht, so wie wir gemacht, gedacht, gewollt sind? Als Micha beschäftigen wir uns damit, was unser Handeln im Alltag tatsächlich bestimmt. Was ist in unseren Herzen notwendig an Umkehr und Verwandlung? Wir alle wollen ja das Richtige tun, wir wollen einen gerechten Lebensstil haben, aber trotzdem merken wir im Alltag, dass wir Reisen machen und Produkte kaufen, bei denen wir bei genauerem Hinspüren sagen müssten: «Das passt ja gar nicht zusammen mit dem, was ich eigentlich will.» Neben Gerechtigkeit sprechen wir gern vom «Schalom», der mehr bedeutet als Frieden, sondern auch eine grosse Grundordnung für die Welt meint, für die wir als Micha uns einsetzen: dass jeder Mensch auf der Welt seine Grundnahrung hat, medizinisch versorgt ist, ein Dach über dem Kopf hat, dass er sein Potenzial entfalten kann.

Als Micha-Initiative engagiert ihr euch gerade auch für das Lieferkettengesetz. Warum?
Gesellschaftliche Veränderung geschieht auf so vielen Ebenen, wie es Menschen gibt. Aber sie geschieht auch ganz viel über politische Mitgestaltung. Da gab es vorher ganz viele Versuche auf Freiwilligkeitsbasis der Unternehmen. Manche christlichen Initiativen weisen schon seit Jahrzehnten auf die Missstände in Produktionsstätten hin. Aber freiwillig ist da nicht genug passiert.

Ihr habt euch dafür auch der grossen Kampagne angeschlossen, an der über 100 Organisationen beteiligt sind. Was bringen solche Kampagnen?
Kampagnen sind dazu da, den Parlamentarierinnen und Parlamentariern zu sagen: Dieses Thema solltet ihr ernst nehmen, denn die Menschen in Deutschland tun es auch! Dadurch, dass über 100 Organisationen mitmachen, ist das immer weiter ins Blickfeld des Bundestages gerutscht. Da sieht man, dass es in einer Demokratie funktioniert, sich Themen anzusprechen. Deshalb ermutigen wir immer, diese Möglichkeit auch wahrzunehmen, weil es ein ganz legitimes Mittel ist, um Leben zu verändern, Gesellschaft zu prägen. Ich habe das noch nie so ausgeprägt gesehen, wie bei dieser Kampagne, weil da so viel Wumms hinter ist. Da sind Umwelt- und Menschenrechtsorganisationen dabei, Wohlfahrtsverbände, Gewerkschaften, Kirchen – das ist unglaublich schön zu sehen.

Wie ist der Stand im aktuellen Lieferkettengesetz?
Gerade kann noch alles passieren. Es kann sein, dass übermorgen eine Pressemeldung rausgeht, dass jetzt ein konkreter Gesetzesentwurf auf dem Tisch liegt. Es könnte aber auch sein, dass es einen ganzen anderen Weg nimmt und uns bei Micha noch die nächsten Jahre beschäftigt. Egal, wie das 2020 ausgeht, das Thema geht weiter: Entweder gehen wir damit noch in den Bundestagwahlkampf rein oder wir haben schon im Frühjahr ein Gesetz.

Braucht es denn für so etwas immer Gesetze?
Natürlich wäre es schöner, wenn Unternehmerinnen und Unternehmer aus freier Entscheidungslust sagen: Wir sorgen für eine faire Produktion. Aber weil das nicht passiert ist, haben wir eine Sorgfaltspflicht für diejenigen, die am meisten darunter leiden und Hungerlöhne bekommen, Sklavenarbeit leisten, ihre Kinder nicht ernähren können. Als machtvolle Wirtschaftsnation brauchen wir einen Rahmen, ein Gesetz. Mit ihrer Gesetzgebung sagt eine Gesellschaft: Dafür stehen wir. Deshalb braucht die deutsche Wirtschaft ein solches Gesetz, in dem steht: Deutsche Unternehmen achten Menschenrechte und Umweltstandards.

Wenn Gesetze aber unser eigenes Verhalten betreffen, gibt es ja schnell einen Aufschrei …
Ich glaube, der Aufschrei ist nur gross, solange man nicht miteinander unterwegs ist und nicht versucht zu verstehen, was da los ist. Ein Aufschrei zeigt immer auch ein Überraschungsmomentum oder ein übermächtiges Bedrohungsgefühl: Irgendjemand will mir was und ich fühle mich ohnmächtig – wie kann das sein?! Da ist es wichtig, sich auszutauschen. Weil wir in der deutschen Gesellschaft gerade unterschiedliche Überzeugungen haben, was wichtig ist. Wer neoliberal aufgewachsen ist, glaubt, wir brauchen stetiges Wachstum. Aber an die Frage, was zu einem guten und gelingenden Leben gehört, kann man auch ganz anders herangehen. In manchen Kulturen gehört dazu unbedingt die Vielfalt der Schöpfung und das Zusammenleben.

Findest du es manchmal anstrengend, dich für diese Themen einzusetzen?
Ich habe gerade erst eine Auszeit genommen. Ein Grund dafür war auch, dass ich es als wahnsinnigen Kampf empfunden habe und mich unverstanden fühlte. Wenn man sich viel mit einem Thema beschäftigt, ist es aber ganz normal, dass da eine Reibung ist, wenn man Menschen trifft, die das gerade erst auf den Schirm kriegen und erst einmal nur mit sich und ihrer Weltsicht unterwegs sind. Aber es ist ein großes Privileg, bei den jungen Leuten zu erleben, dass die Themen Klima und Klimagerechtigkeit von unten hochkommen. Ich glaube, dass die jungen Leute eine entscheidende Rolle spielen werden, weil sie gar keine andere Welt kennen als die jetzige mit allen globalen und tiefen Veränderungen. Sie können anders damit umgehen und sich anders darin orientieren. Wenn sie sich da in ihren Gaben und Berufungen entwickeln können,dann bin ich gespannt, was passiert.

Du hast gerade schon deine Auszeit angesprochen. Wie hast du sie verbracht?
Ich habe in den drei Monaten zehn verschiedene Stationen durchlaufen: Habe im Kloster und im Bauwagen gelebt, ein paar ganz wichtige Seminare besucht, war in den Bergen und an der Ostsee. Ich habe noch nie eine so schöne Abhängigkeit von Gott gespürt. Ich habe mich jeden Tag einfach leiten lassen und gefragt: Gott, was ist heute? Und er hat das dann so orchestriert. Jeden Tag habe ich Wunder und krasse Begegnungen erlebt, bei denen ich dachte: Wow, das war jetzt von Gott.

Was war dir am wichtigsten in der Zeit?
Das Schweigen, nur mit mir sein, einfach mal passieren lassen. Ich habe ganz viel gelacht. Auch geheult mitten im Wald. Auch das war total wichtig. Ich konnte voll reingehen in die eigenen Emotionen und sagen: Jetzt bin ich fröhlich oder traurig oder hilflos oder wütend. Das ist für mich heute ein Schlüssel zu emotionaler Gesundheit: den Tag über den Emotionen nachzugehen und den eigenen Körper wahrzunehmen. Zu fragen: Brauche ich mehr Ruhe, mehr Stille, mehr Leute um mich herum? Das war ein Erwachen für mich und ich würde sagen, ich bin nicht mehr der Mensch, als der ich in diese Auszeit gestartet bin. Ich hatte vorher ganz viel kognitiv über den Sabbat gelesen, über Unterbrechungen, aber was das wirklich fürs Lebensgefühl bedeutet, konnte ich nicht sagen, weil ich vorher selbst so wenig Pausen gemacht habe. Ich habe gemerkt: Leben spüren, Natur liebhaben und sich von ihr abhängig fühlen, das geht am besten draussen, beim Wandern, am Meer, mit Freunden draußen, wenn man eine gute Zeit hat im Wald. Ich fand es schön zu spüren, wie schön es ist, am Leben zu sein und dieses eine Leben mitgekriegt zu haben.

Jetzt bist du seit drei Wochen wieder im Büro. Wie ist es heute für dich?
Mein Team hier bei Micha hat meine Erfahrungen ganz wertschätzend aufgenommen und wir teilen inhaltlich dieselbe Fährte. Wir sind mit den Micha-Themen auch als Freunde unterwegs. In dem, wie wir unsere Spiritualität leben, zusammen Abendmahl im Büro feiern und uns als Menschen wahrnehmen, leben wir die Sehnsucht danach, in Ruhe und im Gleichgewicht mit der Schöpfung leben dürfen und Gottes Liebe in der Schöpfung und im Umgang miteinander zu spüren. In der ganzen Zukunftsdebatte ist ja auch die Rolle von Arbeit ein Thema. Welchen Wert hat Arbeit in Zukunft in der Gesellschaft? Was bedeutet es für den Menschen, sich als arbeitendes Wesen zu verstehen? Worüber definieren wir uns? Da empfinde ich es als großes Privileg meiner Arbeit, mit Menschen unterwegs zu sein, mit denen man alles nicht nur diskutieren, sondern auch entwickeln kann.

Zur Person:

Stefanie Linner, die Koordinatorin der Micha-Initiative, ist 36, hat Politikwissenschaft, Philosophie und christliche Sozialethik in Augsburg, Heidelberg und Neuseeland studiert. Sie wurde 2015 als hauptamtliche Koordinatorin des gemeinnützigen Vereins in Berlin berufen.

Zur Organisation:

Die Micha-Initiative ist ein überkonfessionelles Netzwerk von Organisationen, Gemeinden und Einzelpersonen. Sie setzt sich dafür ein, die Schöpfung zu bewahren und die Würde aller Geschöpfe in unserer Welt zu achten. Micha Deutschland ist ebenso wie die Schweizer Initiative StopArmut Teil der internationalen Kampagne Micah Global.

Dieser Artikel erschien zuerst in der Startausgabe von andersLEBEN.

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Zum Thema:
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Datum: 26.02.2021
Autor: Anja Schäfer
Quelle: andersLEBEN Magazin

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