«Power Women»: Ungewollt schwanger
Tom Sommer, in diesen Wochen geben Sie einen Dokumentarfilm mit dem
Titel «Power Women» heraus. Was wollen Sie mit diesem Film erreichen?
Tom Sommer: Die Produktion des Films geht auf spezifische Erfahrungen des
Teams zurück. Hier in der Schweiz und im Ausland ist uns bewusst geworden, wie
sehr das Thema der ungewollten Schwangerschaften tabuisiert und somit nicht diskutiert
wird. Im Gegenteil, sehr schnell steht der Abbruch der Schwangerschaft zuoberst
auf der Optionenliste – wenn überhaupt über Alternativen gesprochen wird. Vielleicht
könnte man von einem Entscheidungsautomatismus sprechen, den wir in Frage
stellen wollen. Es geht uns also um eine Sensibilisierung für ein heikles
Thema, worüber wir alle vermehrt lernen müssen, nachzudenken und zu sprechen.
Wer sind die Macher dieses Dokumentarfilms?
Das Filmteam besteht aus drei langjährigen Freunden und
Filmemachern, die gemeinsam verschiedene Dokumentarfilme realisiert haben: Hansueli
Gujer, Tom Sommer und Marc Villiger. Ein Highlight war 2015 unser Film «Helden,
die keine sein wollten». Auch dies ein Thema, welches zum Ziel hatte, den
besonderen Mut und die scheinbare Schwäche von Menschen in grossen
Herausforderungen zu porträtieren. Dort ging es um die Rettung von (jüdischen)
Flüchtlingen in Nazifrankreich. Heute geht es um Frauen, die ungewollt
schwanger geworden sind und sich (meist) für das Leben entschieden haben, trotz
Widerspruch und Widerstand.
Das Thema «Lebensschutz» wird in der Schweiz ja vor allem durch
den Marsch fürs Läbe thematisiert. Inwiefern unterscheidet sich «Power Women»
vom Marsch fürs Läbe?
Unser Ziel ist nicht, dass wir uns primär abgrenzen wollen. Und
doch haben diverse – auch unschöne – Erfahrungen mit diesem Thema dazu geführt,
dass wir über neue Zugangswege nachgedacht haben, über ungewolltes und
ungeborenes neues Leben ins Gespräch zu kommen. Ohne Vorurteile, denn solche
Situationen sind schon spannungsreich genug. Viele Menschen, und vor allem
Betroffene, empfinden sich sehr schnell moralisiert und übervorteilt. Das wird
auch mit unserem neuen Film nicht ganz ausbleiben, denn gewisse
gesellschaftliche Kreise sind auf einem anderen Auge blind vor Tabu’s. Bald
schon steht ein erstes Gespräch mit diesen anderen «Kreisen» an. So ist der
Film – und weitere geplante Aktionen – letztlich ein Experiment, um einen neuen
Zugang zu einem heiklen Thema zu finden und mutige Frauen in den Vordergrund zu
stellen. Power Women eben. Wir sind sehr gespannt!
Wie raten Sie einer Frau vorzugehen, die ungewollt schwanger wird?
Wo findet man Hilfe, wenn im nächsten Umfeld niemand da ist?
Am
wichtigsten scheint uns, dass Betroffene und die nächsten Freunde und
Angehörigen bereit sind, vorurteilslos alle (!) Optionen ehrlich zu betrachten.
Jegliche Informationen sollten auf deren weltanschaulichen bzw. ideologischen
Hintergründe hinterfragt und ehrlich diskutiert werden – ohne Wenn und Aber.
Wie in anderen Themen gibt es nämlich auch hier keine Selbstverständlichkeiten,
keine Lösung des Problems erklärt sich von selbst. Es braucht eine persönliche
und dann eine gemeinschaftliche Auseinandersetzung in dieser Herausforderung.
Konkrete Organisationen sind dann leicht im Netz zu finden.
Welches sind ähnliche Erfahrungen, die länder- und
kulturübergreifend bei ungewollten Schwangerschaften gemacht werden?
Das Filmprojekt führte uns in ganz verschiedene Länder: Ruanda in
Afrika, Brasilien, China, Israel und Russland. In der Schweiz filmten wir in
der Romandie. Als kulturübergreifende Konstanten lassen sich leicht ein paar
Stichworte nennen: Männer spielen meist eine eher unrühmliche Rolle, indem sie
Druck ausüben, die Schwangerschaft abzubrechen oder sich gleich aus dem Staub
machen. Allerdings: Unser in der Schweiz gefilmtes Beispiel macht Mut, dass es
auch anders geht. Das sollte Schule machen. Bei den betroffenen Frauen und Familien
ist sehr oft Scham, Unverständnis und nachfolgender Druck für eine «schnelle
Lösung» zu beobachten. Sich dem zu widersetzen, ist alles andere als einfach...
Hier ist dann das persönliche Umfeld und letztlich die Gesellschaft als Ganzes
gefragt, Hilfe zu bieten – ohne Moral und Wenn und Aber. Hier spielt das
kulturelle Umfeld eine sehr grosse Rolle. Aber auch die finanziellen
Voraussetzungen, die in der Schweiz ungleich besser sind als in anderen
Ländern. Hier lohnt es sich, die Bemühungen sowohl der öffentlichen Hand als
auch privatrechtlicher Institutionen besser kennenzulernen. Gerade auch für
junge Frauen ist eine Sensibilisierung nötig, wenn eine Schwangerschaft den
Ausbildungsweg (vermeintlich) zu korrumpieren droht.
Bei ungewollten Schwangerschaften ziehen sich die Väter oft
zurück. Was kann man tun, um sie zu sensibilisieren und mehr miteinzubeziehen?
Die Erzeuger zu sensibilisieren und zu mobilisieren ist eine
grosse Herausforderung. Unser Interviewpartner und Arzt für Familienangelegenheiten
in Ruanda und Kongo berichtete zum Beispiel, dass die Männer beim Bekanntwerden
einer Schwangerschaft oft einfach verschwinden, und bei den Workshops zum Thema
Partnerschaft und Schwangerschaft die Frauen hinschicken würden, denn diese
hätten es nötig, über diese Themen mehr zu erfahren. Eine kulturelle Angelegenheit,
begründet in einem komplett anderen Welt-, Männer- und Frauenbild. Aber über
das Stichwort Verantwortung über eigenes Tun sind wir auch hier im eigenen Land
angelangt: Eine ganzheitlichere Betrachtung von Sexualität, Schwangerschaft und
Partnerschaft scheint uns dringend angebracht. Eine Ethik, die bereit ist
auszuloten, wo Vorverurteilungen und wie auch immer geartete ideologische
Scheuklappen aufgerichtet wurden. Da sollten wir unsere schulischen
Institutionen daraufhin befragen, wie ganzheitlich Organisationen wie Sexuelle
Gesundheit Schweiz ihre Aufgabe wirklich wahrnehmen. Wir denken, da ist noch
Ergänzungsbedarf! Dazu gehört auch die Vorstellung, was es grundsätzlich heisst,
Mann und Partner zu sein. Studien zum Stichwort «Peter Pan Syndrom» deuten zum
Beispiel an, dass viele Milleniums-Männer primär hier und jetzt einfach
geniessen wollen, ohne sich Gedanken für die Zukunft zu machen. Statt
Verantwortung und Verpflichtung stehen Ich-Bezogenheit und oberflächliche
Beziehungen im Vordergrund. Junge Männer mit solchen Befunden zu konfrontieren
und zu diskutieren, wäre wohl der Beginn einer Veränderung.
Zum Schluss nochmals zurück zum Projekt «Power Women». Was
erhoffen Sie sich davon?
Zum Film «Power Women» gehört aktuell auch noch eine
Social Media Kampagne, die wir dabei sind zu entwickeln. Dazu werden auch die
kommenden Gespräche und Filmvorführungen ausgewertet. Und dann sind wir
gespannt, inwieweit wir Sensibilisierungsarbeit leisten können. Ideen sind
vorhanden, weitere Inputs sind willkommen. Wenn wir ein Umdenken anstossen
können, oder zumindest andere Optionen zum ernsthaften Abwägen ins Spiel
bringen können, wäre etwas an Terrain vorbereitet. Als Alternative zum
vermeintlich einfachsten Weg, der heute oft gesucht wird. Wichtig scheint uns
auch die Tatsache, dass jede Generation ihren eigenen Umgang damit finden muss.
Wir bald «Sechziger» haben andere Prägungen und Wertvorstellungen als heutige
junge Menschen. Auf sie abgestimmt gilt es ehrliche Antworten zu formulieren.
Die Vorführungen:
10. Januar 2020, 19.30h: Eglise évangélique d’Echallens, Place de l’Hôtel de Ville 8
21. Januar 2020, 18.00h: Kino Orient, Wettingen, Landstrasse 2
22. Januar 2020, 18.00h: Kino Rex, Bern, Schwanengasse 9
28. Januar 2020, 19,30h: Kinobar Leuzinger, Rapperswil, Ob. Bahnhofstr. 46
Weitere Informationen und Reservation:
«Power Woman»
Zum Thema:
«Schmuck statt Asche»: Sie wurde vergewaltigt – und entschied sich für ihr Kind
Diagnose «schwer behindert»: Sie liess sich nicht zur Abtreibung überreden – und erlebte ein Wunder
Schuldgefühle nach Abtreibung: «Ich hatte ein Leben genommen und konnte es nicht rückgängig machen»
Datum: 08.01.2020
Autor: Mirjam Kaufmann / Tom Sommer
Quelle: Livenet