Blinder rennt für Blinde
Über Nacht verlor der Kenianer Henry Wanyoike sein Augenlicht. Das war vor 17 Jahren, als er einen leichten Schlaganfall hatte. Für den damals 21-jährigen Schuster brach eine Welt zusammen.
Doch er schaffte es, sich ein neues Leben aufzubauen: Wanyoike wurde der schnellste blinde Marathonläufer der Welt, gründete ein Hilfswerk und ist in seiner Heimat ein Volksheld. Er stellte Weltrekorde auf und gewann Goldmedaillen. Auch bei den Paralympics in London macht er sich wieder Hoffnungen, denn er hat eisern trainiert.
Leine am Handgelenk
Training am Morgen ist für den 38-jährigen Routine. Die Hähne krähen, und Nebel hängt über den grünen Hügeln von Kikuyu, rund 20 Kilometer von Kenias Hauptstadt Nairobi entfernt. Wanyoike tritt schlaftrunken aus seiner kleinen Holzhütte. Er ist kahlgeschoren, 1,75 Meter gross, trägt einen neongrünen Trainingsanzug und Sonnenbrille. Er streckt sich, gähnt, bindet sich eine 30 Zentimeter lange Leine um sein rechtes Handgelenk und trabt los. Neben ihm läuft Joseph Kibunja: «Mit der Leine an unseren beiden Handgelenken führe ich ihn», sagt sein Freund.
Vorbild und Held
Die beiden reden viel miteinander. «Links, rechts, Achtung rutschig, in zwei Metern kommt eine Unebenheit», dirigiert Kibunja das Laufwunder über die holprigen Pisten. Zudem müssen sie ständig grüssen, denn jeder kennt und verehrt Wanyoike in seinem Heimatdorf.
«Er ist mein Vorbild und Held», sagt die 17-jährige Schülerin Celine Semeane. «Ich wünschte, ich könnte so viel erreichen wie er.» Pastor Leonard Mbito spricht von Wanyoike ebenfalls mit Hochachtung: «Er ist ein guter Mensch. Obwohl er blind ist, tut er mehr für das Gemeinwohl, als andere, die nicht behindert sind.»
Er schulterte den Führer
Trotz seiner Prominenz gibt sich Wanyoike stets bescheiden. Die paralympischen Spiele in Sydney 2000 waren sein erster internationaler Wettkampf. Niemand kannte den untersetzten, meist lächelnden Athleten, der auf die 5000-Meter-Strecke ging. Wanyoike führte das Feld mit gewaltigem Abstand an, doch sein damaliger Führer klappte auf der Strecke mit Malaria zusammen. Kurzerhand schulterte ihn Wanyoike und zerrte ihn durchs Ziel. Das Ergebnis: Wanyoikes erste Goldmedaille. Seitdem ist Wanyoike ein Läufer, dessen Rekordzeiten über 5000 Meter, 10‘000 Meter und die Marathonstrecke weltweit für Schlagzeilen sorgen.
Stiftung gegründet
«Das Laufen ist Teamarbeit. Ohne Joseph bin ich nichts. Aber als Team können wir die Welt verändern», sagt Wanyoike. Zusammen mit Kibunja gründete er die Henry-Wanyoike-Stiftung. Ihr Ziel: Speziell für Behinderte ausgestattete Räume in Schulen und Krankenhäusern. Einige haben sie bereits gebaut, sowie einen Kindergarten in Henrys Heimatdorf - finanziert durch Benefizläufe.
«Es ist eine grosse Herausforderung», sagt der Läufer, der sich leidenschaftlich für Aidswaisen und Kinder aus mittellosen Familien einsetzt, auch weil er selber in Armut aufwuchs: «Ich musste mit unseren Ziegen und Hühnern in einem Raum schlafen.» Auch als Profisportler habe er nicht viel: «Behindertensport zahlt sich nicht aus, ich habe keine Sponsoren.» Geld von der Regierung gebe es nur, wenn er mit Medaillen zurückkehre. Nur weil seine Frau einen Friseursalon betreibe, kämen sie und ihre vier Kinder über die Runden.
Botschafter für Blindenmission
Zudem unterstützen die britische Bank Standard Chartered und das deutsche Hilfswerk Christoffel Blindenmission Wanyoike regelmässig. Einer Mitarbeiterin der Blindenmission verdankt Wanyoike es auch, dass er sich von einer schweren Depression nach seiner Erblindung erholte und heute weitgehend unabhängig leben kann. Sie vermittelte ihn nach Machakos, Ostafrikas einziger Reha-Klinik für Erwachsene mit Sehbehinderung.
Weitblick behalten
«Dort begann ich mich so zu akzeptieren wie ich bin – als Blinder», sagt Wanyoike. Er lernte, sich mit dem Blindenstock zurechtzufinden, Schreibmaschine zu schreiben, Braille, die Blindenschrift, zu entziffern. Er lernte auch, auf Strickmaschinen Pullover herzustellen, was ihm heute einen Nebenverdienst sichert. Und er begann, wieder zu laufen, wie schon zu Schulzeiten. «Ich habe zwar mein Augenlicht verloren, aber nicht meinen Weitblick und die Hoffnung noch etwas zu erreichen», sagt er heute.
Datum: 01.09.2012
Autor: Dagmar Wittek
Quelle: Epd