Aus dem Dunkel ins Licht kommen
Durch einen Suizid sind im Schnitt 135 Menschen betroffen: Neben den nächsten Angehörigen sind das Mitarbeitende von Blaulicht- und Gesundheitsorganisationen, Lokführer, Schul- und Arbeitskollegen, Freunde aus Freizeitaktivitäten... Bei jährlich tausend Selbsttötungen in der Schweiz sind das 135'000 Betroffene. Hinzu kommen die vielen assistierten Suizide...
Das Magazin «wort+wärch» hat bei Jörg Weisshaupt nachgefragt, welche Erfahrungen er in der Begleitung Suizidbetroffener macht:
Jörg, du hast Nebelmeer-Selbsthilfegruppen für junge Erwachsene initiiert, die
ihren Vater oder ihre Mutter verloren haben. Worunter leiden sie?
Jörg
Weisshaupt: Einem Suizid geht eine lange Geschichte
voraus. Die Betroffenen (englisch: suicide
survivors) bringen diese Geschichte in die Gruppe mit und bekommen die
Möglichkeit, über sie zu reden, üben das dann auch. Denn in ihrem Umfeld hält
die Bereitschaft nicht an, auf die verlängerte Trauer einzugehen. Vielleicht
kommt in der Gruppe zur Sprache, dass ein Elternteil während langer Zeit
psychisch krank war. Aber das Familiensystem integrierte das: Für die Kinder gab
es viel mehr Verantwortung, vor allem wenn die Mutter erkrankt war. Dem
Mädchen, das die Mutterrolle zu übernehmen hatte, unter Umständen während
Jahren, wurde die Kindheit genommen, wobei man es dafür bewunderte: «Sie macht
das gut! Hut ab – sie hilft der Mutter.» Stattdessen hätte man ihre
Überforderung erkennen müssen.
Dies
einzugestehen, fällt dem Umfeld auch nach dem Suizid nicht leicht. So wird
nicht geholfen, die Trauer aufzuarbeiten …
Und ganz verrückt ist, dass Kinder
danach unter grossen Schuldgefühlen leiden. Eine Tochter hat ihren Vater zur
Therapie und in die Klinik begleitet – und macht sich nach seinem Suizid enorme
Vorwürfe. Nicht nur Partner, auch Kinder sehen in ein Loch, verlieren ihr
Selbstwertgefühl. Denn Eltern sind Vorbilder, man will in ihre Fussstapfen
treten. Das wird abgeschnitten, gekappt. Eine Riesen-Leere. «Mir ist der Boden
unter den Füssen weggezogen», sagen Hinterbliebene, Kinder, Eltern, Partner.
Wenn sich jemand ohne psychische Erkrankung plötzlich das Leben nimmt, ist der Schock noch grösser. Da stellt man alles, die gemeinsamen Pläne, die Werte, die Beziehung, auch das Vertrauen des Verstorbenen, in Frage. Ein Graben tut sich auf. Warum hat er sich mir nicht anvertraut? Das Gefühlschaos ist immens.
Was
passiert im Gefühlschaos?
Wut und Trauer lösen sich ab. Survivors verstehen nicht, dass sie
unversehens weinen und dann wieder anders gestimmt sind. Vom einen ins andere
geworfen zu werden, macht Mühe. Was können sie tun, um nicht bei einem
Vorstellungsgespräch in Tränen auszubrechen?
Worte
zu finden für den Verlust ist schwierig.
Ein Suizid verunmöglicht das
Abschiednehmen und auch das gemeinsame Trauern. Als Vreni, meine Frau, an Krebs
erkrankte, konnten wir über Monate und Jahre einen Weg miteinander gehen.
Dasselbe tat ich, als später mein Sohn Micha erkrankte – zuerst im Zeichen der
Hoffnung auf Besserung. Der gemeinsame Weg von Traurigkeit, Wut und
Abschiednehmen hilft Hinterbliebenen nach dem Tod, allein weiterzugehen auf dem
Weg. Beim Suizid geht das nicht. Deshalb kommt es zu einer prolongierten, lange
anhaltenden Trauer. In den 1960er Jahren stuften Psychiater diese Trauer als
krankhaft ein, was bis heute nachwirkt.
Ich erlebe Menschen, die nach fünf Jahren in die Gruppe kommen und merken, dass sie vieles noch nicht aufgearbeitet haben. Dann machen sie Ähnliches durch wie jemand, der sich der Trauer kurz nach dem Tod des Nächsten stellt. Trauer ist keine Krankheit, aber sie macht krank, wenn man sie nicht zulässt. Eine Frau, neu im Refugium, hat geweint und sich dafür entschuldigt. Ich sagte: Bei uns hat das Weinen genauso Platz wie das Lachen – und wer entschuldigt sich fürs Lachen? Doch so ist es in unserer Gesellschaft: Man meint, sich für Tränen entschuldigen zu müssen.
Stellst
du fest, dass Hinterbliebene die Trauer über lange Zeit verdrängen?
Eine Langzeit-Studie in den USA ergab,
dass Hilfe im Durchschnitt erst nach viereinhalb Jahren in Anspruch genommen
wurde. Wer so lange in einer Blockade lebt und nicht mehr in sein Leben
zurückfindet, leidet schwer. Es macht Sinn, frühzeitig auf survivors zuzugehen. Darum ersuche ich nun die Kantonspolizei,
Betroffenen meine Handynummer zu geben oder mir von ihnen Kenntnis zu geben, so
dass ich sie kontaktieren kann. Auf Wunsch besuche ich sie gleich und kann sie
beraten, wenn es um die Trauerfeier und die nächsten Schritte geht.
Im
Advent brennen viele Lichter im Dunkeln. Wie kommen Hinterbliebene wieder ins
Licht?
Wenn der Suizid noch nicht lang
zurückliegt, werden die Lichter oft als Affront empfunden. Jeder Geburtstag,
den man zuvor miteinander feierte, jedes Fest schmerzt enorm. Wir thematisieren
das in den Gruppen. Gut ist, etwas zu planen für diese Tage.
Gibst
du Bibelworte weiter?
Selten outet sich jemand als
Glaubende/r. Während zehn Jahre als Notfallseelsorger in Zürich habe ich von
Hinterbliebenen nie den Wunsch vernommen, dass der lokale Pfarrer vorbeikommen
möge. Es war alarmierend für mich, dass die Kirche in der Stadt schon so weit
von den Leuten weg ist. Viele Menschen haben keinen Bezug mehr zur Bibel und erwarten
von der Kirche nichts mehr.
Bringst
du Bibelworte in die Gesprächsgruppen ein?
In der Nebelmeer-Gruppe fragte eine
Frau, die sich auch Jahre nach dem Suizid noch nach ihrer Mutter sehnt, eine
Viertelstunde vor Ende: Gibt es ein Leben nach dem Tod? Ich überlegte, ob ich
von meinem Glauben her bejahend antworten sollte. Würde die Frau dann heimgehen
und sich eventuell das Leben nehmen, um ihrer Mutter rascher wieder zu
begegnen? Ich machte keine Aussage, aber gab den drei Anwesenden am Ende eine Bibel
mit der Einladung, darin zu lesen.
Ein Pfarrer fragte mich, ob er den Abschiedsbrief der jungen Frau, laut dem sie sich freut, Jesus zu sehen, in der Feier vorlesen soll. Ich habe ihn ermutigt, es zu tun und in der Predigt darauf einzugehen. Wir sollen von der Hoffnung, die Jesus uns schenkt, reden, wenn sich die Gelegenheit bietet (1. Petrus Kapitel 3, Vers 15).
Jörg,
du hast erwähnt, dass deine Frau Vreni an Krebs erkrankte und nach Jahren von
Kampf und Schmerz verstarb. Dann erkrankte euer Sohn Micha und du musstest ihn
loslassen. Und eben ist deine Mutter verschieden. Wie prägt das deinen Dienst?
Ich konnte alle drei begleiten und Abschied nehmen. Vreni
und ich rangen jahrelang um ihr Leben. Michas Sterben war schwer erträglich.
Die Trauer ist mega gross. Durch meine Geschichte habe ich ein tieferes
Verständnis für Menschen, die trauern. Ich sage ihnen: «Trauer drückt eure
Liebe zur verstorbenen Person aus. Wenn Tränen unkontrollierbar aufsteigen, ist
das ein Beweis eurer Liebe.» Das können survivors
eher akzeptieren, wenn sie meinen Weg kennen.
Im Leben eines jeden Menschen kommt es zu Situationen, in denen es scheint, als würde die Welt plötzlich aufhören sich zu drehen. Der Tod eines geliebten Menschen gehört dazu. Je nach Reserven und Quellen gelingt es den Hinterbliebenen früher oder später, mit dem Verlust weiterzuleben.
Manchen von uns ist Resilienz, diese seelische Widerstandskraft, von klein auf gegeben; andere müssen sie sich erst aneignen. Wer in einer Gottesbeziehung und einer tragfähigen Glaubensgemeinschaft lebt, erfährt Geborgenheit und diese Kraftquelle, die ihn aus dem dunklen Loch wieder ans Licht führt. Anstatt «Weshalb geschieht das gerade mir?» fragt er sich: «Was kann ich jetzt, da es mich getroffen hat, tun, um aus dieser Situation möglichst unbeschadet herauszukommen?»
Wie
siehst du das Erwägen des Suizids und seine grössere Akzeptanz in unserer
Gesellschaft?
Die Akzeptanz der Selbsttötung ist wieder gewachsen, muss man sagen. Denn
in der Antike gingen die Römer ganz anders damit um. Eine liberale Haltung
gegenüber der Selbsttötung ist in dem Sinn nichts Neues.
Mache ich die Schwelle zum Suizid tiefer, wenn ich ihn gegenüber einem suizidalen Menschen nicht als Sünde bezeichnen? (Dies fragte mich ein Student.) Meine Erfahrung ist, dass wenn ein Suizidaler im Gespräch bei seinem Gegenüber Offenheit für seine Empfindungen und Gedanken spürt, für das Sein im Loch, dann ist das wie ein Ventil: Druck geht ab. Einer schrieb, er habe die Nacht nur überlebt, weil er in einem Suizid-Forum habe chatten können – die Dargebotene Hand hätte ihm nicht geholfen.
Was
rätst du zur Prävention von Suiziden?
Drei Punkte: hinschauen, ansprechen,
handeln. Wir sollten aufmerksam werden, wenn jemand sich verändert, nicht mehr
zum Mittagessen kommt oder sich nicht mehr pflegt. Zweitens: die Suizid-Gedanken
ansprechen – sagen, dass wir uns sorgen. Das Ansprechen hilft. Erwiesenermassen
gibt es nicht mehr Suizide, wenn darauf gerichtete Gedanken angesprochen
werden. Und drittens: handeln. Wenn jemand von einem Ort oder einem Zeitpunkt
redet, dann müssen wir ihn mitnehmen an einen Ort, wo er intensiv betreut wird.
Oder Seelsorge erfährt, sofern er dafür offen ist.
Zur Person:
Jörg
Weisshaupt, 64, während
30 Jahren Jugendbeauftragter der Stadtzürcher reformierten Kirchgemeinden,
Mitinitiant der SMS- und der Internet-Seelsorge, kümmert sich um
Suizid-Hinterbliebene.
Konkrete Hilfsangebote:
Nebelmeer-Gruppen (derzeit in Bern und Zürich, im Aufbau in St. Gallen) sind für Jugendliche und junge Erwachsene, die Eltern durch Suizid verloren haben.In Refugium-Gruppen treffen sich Menschen ab 30 nach dem Verlust eines Partners, eines Kindes, eines Elternteils, eines guten Freundes.
Covid-19 macht kreativ: Online-Community für Suizidbetroffene – monatliche, moderierte Videokonferenz. Damit Du mit anderen Hinterbliebenen über Deinen Verlust sprechen kannst: Schreib eine Nachricht an 076 598 45 30, dann bekommst Du die Infos zum nächsten virtuellen Treffen.
Livenet-Talk zum Thema «Wie weiter nach einem Suizid»:
Zur Langfassung des Interviews auf EGW.
Zu weiteren Interviews zu gesellschaftlichen Spannungsfeldern.
Zum Thema:
Das Tabu brechen: Wie weiter nach dem Suizid?
Livenet-Talk vom 3 Juli 2020: Wie weiter nach einem Suizid?
Reden über Suizid: «Mein Mann war Pastor und hat sich das Leben genommen»
Datum: 01.12.2020
Autor: Peter Schmid
Quelle: EGW Magazin