Filmtipp zu Carl Lutz

Die Schweizer «Schindlers Liste»

Carl Lutz
Man kann nicht anders als von Wundern zu sprechen, wenn Hitler selber eine Bewilligung gab, Juden zu schützen. Dem Mut des christlichen Diplomaten folgten reihenweise ähnliche unfassbare «Zufälle». Über 60'000 Menschen entkamen dem Tod.

«Er rettete mein Leben. Mit sieben Jahren sollte ich sterben, jetzt bin ich 67!» – «Ich frage mich immer wieder, ob ich den Mut gehabt hätte Juden zu helfen … ich glaube nicht.» – «Wer eine Seele rettet, der rettet die ganze Welt.» – «Es war Gottes Finger.» Mit mehreren Statements von Überlebenden zieht die eindringliche Doku direkt in ihren Bann.

Der Film «Carl Lutz - Der vergessene Held» zeigt die wundersam-starke Rettungsgeschichte in der Judenverfolgung, eine Lovestory und wie Carl Lutz in der Schweiz schlussendlich getadelt statt geadelt wurde.

Deutsche zwingen zur «Endlösung der Juden»

Der tiefgläubige Methodist hatte schon als Bub davon geträumt eine grosse Mission für Gott zu erfüllen. 1942 kam das Ehepaar Lutz nach Ungarn, wo sie bis im März 1944 eine ruhige Zeit verbrachten, obwohl die Nachbarsländer zunehmend ins Kriegstreiben gerieten. Bis dahin war auch für Juden das Leben recht normal. Die Schutzfunktion des Staatsoberhaupts Miklós Horthy kam zunehmend unter Druck, die sogenannte «Endlösung der Juden» voranzutreiben.

Der verheiratete Diplomat Carl Robert Lutz vertrat in Budapest die Interessen von sieben Staaten. Und verliebte sich in die alleinerziehende Magda, mit Tochter Agnes.

Es ging sehr schnell. Die Juden mussten in Judenhäuser ziehen, die mit gelbem Stern markiert waren, es wurde ihnen sogar verboten, auf einer Bank im Park zu sitzen. Damals waren 800’000 Juden in Ungarn und somit auch die letzte Gruppe, die der Nazi Eichmann vernichten wollte, erzählt seine Stieftochter. 437'000 Juden wurden innert zwölf Wochen nach Auschwitz abgeschleppt. Aber Lutz sollte zur grössten zivilen Rettungsaktion, die es je gab, ansetzen.

Heiliger Zorn macht Lutz zum «Mose»

Der Diplomat bekam als einer der Ersten die sogenannten «Auschwitz-Protokolle» von Geflüchteten zu Gesicht. Davon berührt, wollte er kompromisslos Hilfe bringen.
Er traf Eichmann und konfrontierte ihn furchtlos mit den Sätzen: «Herr Obersturmbandführer, wenn Sie Jude wären, dann würden Sie auch zu mir kommen… Für mich gibt es nur Menschen, die ihr Leben retten wollen. Es gibt keine Deutschen, Juden oder Schweizer. Als das müssen Sie mich taxieren.» Er liess einen entrüsteten Eichmann zurück, ein extrem brutaler Typ. Er sei wie Mose, der sein Volk ins «Verheissene Land» führen wolle, stichelte der Nazi.

Juden helfen; Hitler ist einverstanden

Schicksalshaft hatte Lutz früher in Palästina gute Dienste für Deutschland geleistet. Er wurde Vizekonsul. Der Diplomat beobachtete, wie ein Jude von Arabern gesteinigt wurde. Er hatte damals brieflich seinem Bruder bekannt, dass er für die Juden seine Stimme erheben würde – eines Tages… Nun war es so weit.

Lutz' Anliegen, der Schutz von Juden, stieg bis ganz nach oben; Eichmann hätte keine Kompetenz, Himmler keine Vollmacht, hiess es. Bis es an Hitler in Berlin gelangte. Lutz sah die Sache schon als verloren. Dann kam die absolut unerwartete Antwort: «Wenn das der Mann ist, der in Palästina unsere Interessen so zu unserer Zufriedenheit vertreten hat, will ich ihm seinen Wunsch erfüllen.»

Briefe bieten Bewahrung

Die verrückte Idee wurde umgesetzt, ein Schutzbrief-System aufzubauen. Auch Kollektiv-Pässe wurden entworfen; alles versehen mit offiziellem Briefkopf der Schweizer Botschaft, obwohl die Papiere nie vom Staat beglaubigt wurden. Der Text bestand nur daraus, «dass man nach Möglichkeit in die Schweiz auswandern will. Und bis dahin unter dem Schutz der CH, Confoederatio Helvetica, stehe», erzählt ein Geretteter.

Oft unter Tränen beschreiben die Betroffenen, wie die Mutter oder Tante dank des Briefes gerettet wurden. Leslie Blau (88) konnte mithilfe von Lutz eine ganze Zwangsarbeiter-Kompanie befreien, übergab in seiner Unterkunft Pässe für 240 Kumpels – in diesem Moment wussten sie, dass ihr Leben gerettet war.

Schicksal des Oberrabbis

Die Schweizer Botschaft wurde von Schutzsuchenden geflutet, ein Nebengebäude zugemietet, schlussendlich waren es 72 Gebäude für 17'000 Juden unter schlechtesten Lebensbedingungen. Tausenden wurden in Tag- und Nachtschicht von rund 100 Mitarbeitern Papiere ausgestellt.

Für die beiden Frauen (Ehefrau und Geliebte) hatte Lutz nur wenig Zeit. Beziehungen und Schicksal bestimmten über das Leben – und Tod. Wie die Geschichte des Oberrabbis von Budapest, der einen Wächter an der Türe kannte, der ihn sofort aus der Masse hereinzog und so rettete.

Ohne Nazis – aber schlimmer

Am 15. Oktober 1944 wurden die Russen reingelassen, um die Ungaren von den Nazis zu befreien, aber – es kam noch schlimmer. Brutaler und unbarmherziger als die Gestapo waren die «Pfeilkreuzler»; die ungarischen Nationalsozialisten «ohne Gewissen, Gesetz und Recht». Tausende Morde gab es an der Donau, wo sie mit Genickschüssen Juden umbrachten.

«Das Schlimmste ist nicht der Tod selber, sondern dass wir nicht mehr als Menschen behandelt wurden, unsere Würde weggenommen wurde», sagt André Sirtes (79), Überlebender aus Emmenbrücke.

8000 offizielle Briefe und 100'000 gefälschte

Ein Mehrfaches der bewilligten 8000 Schutzbriefe wurden verfasst. Lutz schummelte einfach bei der Nummerierung. Auch zionistische Organisationen fingen an, Briefe zu fälschen. Es waren schlussendlich rund 100'000 gefälschte Papiere.

Mitten in der Nacht wurden Carl Lutz und seine Frau dann an einen Sammelort gerufen, um zu bezeugen, welche Briefe echt waren, welche nicht. «Es war schrecklich, Menschen in den Tod zu schicken», so der Schweizer. Dieses traumatische Erlebnis konnte er nie überwinden.

Unglücklich in der Schweiz

Zehn Minuten vor Filmende erzählen Gerettete nochmals, wie sie sich erklären, dass gerade sie gerettet wurden. War es Gott, Schicksal, Instinkt? Manchmal entschied eine Sekunde, ein Papier zur rechten Zeit über ein Leben – oder den Tod.

Lutz wurde von den Russen ausgewiesen, zurück in der Schweiz wurde er weder begrüsst noch in irgendeiner Weise wertgeschätzt. Im Gegenteil, sogar einen Orangensaft als Speseneinforderung war den Beamten ein Dorn im Auge.

Bald liess er sich scheiden und heiratete die Geliebte; dabei ihre Tochter. Doch der eisige Wind in der helvetischen Heimat wurde für die drei so kalt, dass seine Frau sich später das Leben nahm.

«Herr Bundesrat, darf ich einen Ertrinkenden retten?»

Der Bundesrat monierte, dass der Diplomat ja keine Bewilligung von ihm erhalten hätte, worauf Lutz entgegnete: «Wenn einer am Ertrinken ist, und er hält die Arme hoch, muss ich Sie dann auch fragen, ob ich ihn retten darf?»

Im Februar 1975 verstarb Carl Lutz einsam und verbittert, ohne je einen Dank erhalten zu haben; ein ähnlich unbarmherziges Schicksal, wie das des bekannten St. Galler Polizeihauptmann Paul Grüninger. Erst 1995, 20 Jahre nach seinem Tod, wurde der todesmutige Retter rehabilitiert.

Ein 95jähriger jüdischer Unternehmer sagt: «Nicht ein Mensch alleine konnte all diese Personen retten. Das gilt auch für Lutz. Er war ein Held. Aber er leitete Hunderte und Tausende an, zu helfen.» Und drei gerettete Brüder erklären: «Wir sind sehr dankbar. Meine Kinder sind glücklich. Meine 16 Enkelkinder sind glücklich. Ja, auch meine Frau.»

Zum Dokumentarfilm:
Carl Lutz - Der vergessene Held // Carl Lutz - The forgotten Hero, 91 Minuten Laufzeit

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Datum: 13.03.2025
Autor: Roland Streit
Quelle: Livenet

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