Neid und Machtspiele

Wer hat das Sagen?

Mose mit den Zehn Geboten (Holocaust-Denkmal in Zagreb)
Mose leitet Israel aus Ägypten. Immer an seiner Seite sind Mirjam und Aaron. Die geben sich irgendwann nicht mehr mit der untergeordneten Position zufrieden. Lydia Riess erklärt anhand von 4. Mose Kapitel 12, wie Gott über Neid und Machtspiele denkt.

Das Volk Israel hatte eine weite Reise hinter sich. Nicht nur der Weg durch die Wüste lag hinter ihnen. Lange Zeit waren sie Sklaven in Ägypten gewesen, Menschen zweiter Klasse, die wenig Hoffnung auf eine bessere Zukunft hatten. Und dann war das Wunder geschehen: Gott hatte ihre Gebete erhört und ihnen einen Retter geschickt – Mose, der sie schliesslich mit Gottes Kraft aus der Sklaverei befreite.

Mose gab diesem verlorenen Haufen ehemaliger Sklaven eine gemeinsame Richtung und Identität. Er hielt sie zusammen und schenkte Stabilität, indem er die Gesetze weitergab und umsetzte, die Gott ihm anvertraut hatte. Diese Stabilität war notwendig für die Israeliten, um die Wüste und den Weg in eine neue Identität als freies, eigenständiges Volk zu schaffen.

Geschwisterrollen

Aber Mose war nicht der Einzige, der eine leitende Funktion übernommen hatte. Seine Schwester Mirjam, die bereits als Kind auf ihn aufgepasst hatte (2. Mose Kapitel 2, Vers 4), trat später als Prophetin für das Volk Israel auf (2. Mose Kapitel 15, Vers 20). Und als Mose zum König von Ägypten ging, um sich für sein Volk einzusetzen, war sein Bruder Aaron an seiner Seite. Er ermutigte ihn und sprach für ihn, wenn Mose die Worte fehlten (2. Mose Kapitel 4, Vers 14). Mirjam behielt ihre Rolle als Prophetin bis zu ihrem Tod bei, und Aaron wurde zum ersten Priester Israels.

Die Wichtigkeit von Moses Geschwistern wird auch in Micha Kapitel 6, Vers 4 betont. Dort sagt Gott: «Habe ich dich doch aus Ägyptenland geführt und aus der Knechtschaft erlöst und vor dir her gesandt Mose, Aaron und Mirjam.» Nicht nur Mose, sondern auch seine Geschwister hatten also eine relevante Rolle für die Befreiung Israels.

Trotzdem wird beim Lesen der Geschichte vom Auszug aus Ägypten und der Reise ins verheissene Land eines klar: Mose hat eine besondere Stellung. Er ist es, der den expliziten Auftrag erhält, sein Volk zu befreien. Er ist es, der das Gesetz empfängt. Er ist es, der im persönlichen Austausch mit Gott steht. Er ist es, der später als grösster und wichtigster Prophet Israels benannt wird (5. Mose Kapitel 34, Vers 10).

Geschwisterstreit

«Da redeten Mirjam und Aaron gegen Mose um seiner Frau willen, der Kuschiterin, die er genommen hatte. Er ­hatte sich nämlich eine kuschitische Frau genommen. Und sie ­sprachen: Redet denn der Herr allein durch Mose? Redet er nicht auch durch uns? Und der Herr hörte es.» (4. Mose Kapitel 12, Verse 1-2 I LUT) Mirjam und Aaron scheinen damit nicht einverstanden zu sein. Sie kritisieren Mose auf eine Weise, die klarstellen soll: Mose ist alles andere als perfekt. Ihre konkrete Anschuldigung: Mose hat eine Frau geheiratet, deren Volk fremde Götter verehrt. Ausleger sind nicht sicher, ob die Kuschiterin mit Zippora gleichzusetzen ist, also der Frau, die Mose nach seiner Flucht aus Ägypten heiratete, oder ob es sich hier um eine zweite Frau handelt. Aber so oder so ist bereits seine erste Frau eine Nicht-Israelitin, und Mose hat sie schon vor einer ganzen Weile geheiratet. Dass Mirjam und Aaron diese Kritik erst jetzt vorbringen, lässt also einen Vorwand vermuten.

Das wird auch durch ihre anschliessenden Worte bestärkt: «Redet denn der Herr allein durch Mose? Redet er nicht auch durch uns?» (4. Mose Kapitel 12, Vers 2). Hier liegt das wahre Motiv. Mirjam und Aaron denken offenbar, sie sollten auf derselben Stufe wie Mose stehen.

Darin zeigt sich eine Verschiebung der Prioritäten. Denn ihre Kritik liegt nicht darin, dass das Volk nicht die Führung bekommt, die es braucht, und darunter leidet. Die Kritik liegt darin, dass Mirjam und Aaron selbst nicht mit der Wichtigkeit betrachtet werden, die sie ihrer Meinung nach besitzen. Das zeigt sich auch an der fragwürdigen Art, mit der sie ihre Kritik vorbringen. Denn statt zu Mose zu gehen und das Gespräch zu suchen, lästern sie vor dem Volk, als dessen Führer sie sich gerade selbst bezeichnet haben. Sie putzen Mose runter, um sich selbst erhöhen zu können – und versuchen, das Volk auf ihre Seite zu ziehen.

Gottes Prioritäten

Was passiert, wenn Führungspersonen sich auf dem Rücken derer streiten, für die sie verantwortlich sind? Wenn aus ihrer wichtigen Aufgabe ein Egotrip wird und die Stellung statt der Aufgabe ins Zentrum rückt? Die Menschen, die auf sie angewiesen sind, werden verunsichert. Wenn die Führung bröckelt, bröckelt das ganze Gebäude. Gott scheint ebenfalls dieser Meinung zu sein. Denn er tut das, was Mirjam und Aaron hätten tun sollen: Er veranlasst ein klärendes Gespräch, und zwar in einem privaten und geschützten Rahmen (4. Mose Kapitel 12, Vers 5).

Und Gott wäscht den beiden gehörig den Kopf. Seine Worte sind nicht nur Zurechtweisung, sondern auch Klarstellung: Mirjam und Aaron haben Mose in einer Weise kritisiert, die es so klingen lässt, als habe er selbst sich vor sie gedrängt. Gott sagt hier: Weder Mirjam noch Aaron haben zu bestimmen, wer am wichtigsten ist – und Mose auch nicht. Wer hier bestimmt, ist Gott. Und Gott hat Mose zum Wichtigsten der drei bestimmt. «Warum habt ihr euch denn nicht gefürchtet, gegen meinen Knecht Mose zu reden?», fragt er (4. Mose Kapitel 12, Vers 8). Gott stellt damit klar, dass ihre Kritik an Mose sich gegen Gott selbst richtet, weil sie damit seine Wahl in Frage stellen.

Neue Stabilität

Interessant ist, wie Gott den Konflikt löst. Er lässt Mirjam aussätzig werden. Aaron wird von dieser Strafe nur als «Zuschauer» betroffen, aber offenbar reicht das, um die gewünschte Veränderung zu bewirken: Er wendet sich sofort an Mose und bittet in respektvoller Weise um seine Fürsprache bei Gott. In der Art und Weise, wie Aaron das tut, wird deutlich, dass er Gottes «Zurechtrückung» der Machtverhältnisse verstanden hat und anerkennt: Mose ist der Einzige, der mit Gott über diese Strafe verhandeln kann.

Gott nimmt die Strafe nicht weg, sondern begrenzt sie nur: Mirjam muss die Krankheit sieben Tage lang tragen. Dieses sichtbare Zeichen dient vermutlich nicht nur ihr und Aaron, sondern auch dem Volk als Botschaft. Genauso, wie sie den Konflikt offen vor das Volk getragen haben, zeigt Gott jetzt offen und vor aller Augen, wie er dazu steht.

Gottes Reaktion betont die Wichtigkeit von stabiler Führung: Mirjam und Aaron werden auf ihren Platz verwiesen, aber nicht ihres Amtes enthoben. Sie haben immer noch eine wichtige Aufgabe, auch wenn diese ihre Grenzen hat. Die Strafe dient allein dazu, die Verhältnisse zu klären und Missverständnisse zu beseitigen.

Darin liegt auch für uns heute eine wichtige Botschaft: Unsere Priorität liegt in unseren Aufgaben, nicht in unseren Rollen. Wir sollen uns nicht vergleichen, sondern unsere eigene Verantwortung ernst nehmen. Und: Wo wir Gott und einander respektieren, kann gutes Miteinander gelingen.

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Datum: 16.06.2024
Autor: Lydia Rieß
Quelle: Magazin LebensLauf 03/2024, SCM Bundes-Verlag

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