Inklusion in der Kirche

Wie können Gemeinden Menschen mit Behinderung integrieren?

Noch vor wenigen Jahren war «Inklusion» ein richtiges Modewort unter den evangelischen Gemeinden. Überall stand die Frage im Raum: Wie können wir Menschen mit einer Behinderung in die Gemeinde einbeziehen? Doch trotz grosser Bereitschaft, trotz Lernwilligkeit, trotz Interesses blieb es vielerorts bei guten Intentionen. Was ist falsch gelaufen? Und wie könnte man es anders machen?
Treffen des European Disability Network
Thérèse Swinters

Seit zwölf Jahren ist Thérèse Swinters leitendes Mitglied des «European Disability Network EDN» (Europäisches Netzwerk für Behinderung) – und immer noch sieht sie grosse Schwierigkeiten darin, dass das Thema Behinderung in den Gemeinden wirklich behandelt wird. «In den über zwölf Jahren, in denen ich Vermittlerin des EDN bin, ist es mein grösstes Problem gewesen, dass überhaupt über das Thema Behinderung gesprochen wird – dass es einfach zum Teil der Agenda gemacht wird», erklärte die Belgierin unlängst im Interview mit Evangelical Focus.

Dabei ist sich wohl jeder einig, dass Jesus für behinderte Menschen da war und ist – und dass es auch die Aufgabe von Christen ist, Menschen mit unterschiedlichsten Behinderungen vom Evangelium weiterzusagen und sie in die Gemeinde zu integrieren und zwar nicht bloss als Gemeindeglieder, sondern als Lehrer, Pastoren, Seelsorger und Jünger, wie Swinters deutlich macht.

Falsche Vorstellungen

Dabei geht es nicht darum, «Menschen im Rollstuhl in die Kirche zu bekommen», sondern vielmehr um schwierige Bereiche, «beispielsweise Menschen mit Lernbehinderungen oder gehörlose Menschen in unsere Bibelgruppen mit einzubeziehen». Auch gehe es nicht darum, dass Gemeinden für Fürsorge von behinderten Menschen, für Rollstühle etc. zahlen sollen. Vielmehr müssten Gemeindeleiter lernen, Menschen, die mit Behinderungen leben, besser zu verstehen.

Darf ich dir helfen?

Ein grosses Problem sieht Swinters beispielsweise darin, wie Menschen ohne Behinderung auf Menschen mit Behinderungen zugehen. «Christen sind normalerweise liebevoll und kümmern sich, aber häufig wissen sie nicht, wann und wie sie helfen können.» Da wird schnell gefragt «Wie kann ich dir helfen?», anstatt erstmal überhaupt zu fragen: «Brauchst du Hilfe?». Die meisten Menschen mit Behinderungen könnten viele Dinge im Alltag selbst meistern und möchten nicht bevormundet werden. Deshalb sei es wichtig zu fragen, ob Hilfe benötigt wird und dann genau «auf jedes Detail der Antwort zu hören».

Ein Beispiel aus dem eigenen Leben

Thérèse Swinters veranschaulicht dies mit einem Beispiel aus ihrem eigenen Leben, in welchem sie für Distanzen, die über 50 Meter hinausgehen, grundsätzlich einen Rollstuhl nutzt. «Ich kann meinen Rollstuhl allein in mein Auto hineinstellen und wieder herausholen. Manchmal wollen Leute helfen, aber sie fragen mich vorher nicht und das macht das Ganze schwierig: Wenn jemand den Rollstuhl ohne meine Anweisung in das Auto stellt, kann ich ihn hinterher bei mir zuhause nicht selbst wieder rausholen. Und dort habe ich niemand, der mir hilft. Deshalb sage ich oft den Leuten, dass ich meinen Rollstuhl lieber selbst ins Auto stelle, aber dann denken sie, dass ich nicht möchte, dass sie mir Hilfe anbieten. Oder es ist ihnen peinlich, dass sie überhaupt gefragt haben.»

Eine Lösung sei hierbei, vorher zu fragen und gut auf die Antwort zu achten. Es ist auch gut und wichtig, so Swinters, wenn Christen Freundschaft mit behinderten Menschen suchen. «Jeder Christ sollte sich darin üben, Kontakt mit Menschen mit Behinderungen aufzunehmen.»

Erfolgreiche Projekte

Beispiele für erfolgreiche Inklusionsprogramme von Gemeinden gebe es in Grossbritannien und der Ukraine. Während lokale Kirchen in England zusammen mit einer christlichen Organisation über 200 Gruppen eröffnet haben, in denen lernbehinderten Erwachsenen das Evangelium nahe gebracht wird, bietet ein EDN-Partner in der Ukraine Hilfe im Transport, bei Sommercamps und anderem. Ein Schlüsselfaktor zum Erfolg eines Programmes sei insbesondere, ob die lokale Kirche, die hinter dem Projekt steht, dies aktiv unterstützt.

Verschiedene Arten von Behinderungen

Doch egal, was eine Gemeinde an Programmen plant, ist es wichtig zu verstehen, dass es unterschiedliche Arten der Behinderung gibt – die jede anders angegangen werden muss. Swinters erklärt:

Körperliche Behinderungen: «Menschen mit körperlichen Behinderungen können sich oft nur schwer fortbewegen, können aber normal lernen. Viele dieser Menschen lebten früher ohne Behinderung und müssen mit einem Mal ihren Alltag völlig neu überdenken. Das wird zu einem grossen Thema für sie. Kirchen sind oftmals für körperlich behinderte Menschen schwer zugänglich. Ein Pastor, beispielsweise, kann in seiner Kirche nicht mehr predigen, weil er nicht mehr auf die Kanzel kommt… Häufig hat die Gemeinde nicht den Mut, ihm auf seinem Weg zurück zu seinen früheren Tätigkeiten zu helfen, obwohl es mit ein paar Anpassungen möglich wäre. Diese Haltung ist ein Problem für Leiter und Gemeindeglieder.»

Lernbehinderungen (unter anderem Trisomie 21): «In diesem Fall kann die Person nicht auf einem hohen intellektuellen Niveau lernen und selbst tägliches Lernen und Regeln werden von vielen nicht verstanden. Sie brauchen jeden Tag Unterstützung und Anleitung. Dies bedeutet, dass sie auch besondere Anleitung benötigen, um mehr über Gott und Jesus als ihren Retter zu lernen. Das sieht zunächst so aus, als würden wir sie ausschliessen… Doch es geht nicht um das ausschliessen. Viele Leute denken, Menschen mit Lernbehinderung sind eh vom Herrn angenommen, also muss man sich nicht weiter darum kümmern. Aber auch sie müssen durch Jesus Christus zu Gott kommen und so müssen wir ihnen das Evangelium nahebringen.»

Erblindete Menschen: «In den Zeiten vor Beamern, Videos und so weiter waren Nichtsehende zum grössten Teil problemlos in unsere Gemeinden integriert. Sie waren häufig Prediger, Leiter von Bibelkreisen, und anderes mehr. Aber heute ist es schwieriger. Wie können sie mit der Gemeinde singen, wenn sie den Text nicht lesen können? Wie können sie einer Ansprache folgen, wenn die Hauptpunkte an die Wand projiziert werden, aber niemand die Punkte laut vorliest? Wir machen es ihnen schwer, wenn wir nicht bereit sind, alles laut vorzulesen oder beispielsweise Bilder zu erklären.»

Menschen mit Hörbehinderung: «Sehen wir diese Menschen überhaupt als Personen mit Behinderung? Viele von ihnen wurden gehörlos geboren oder leben innerhalb der Gehörlosen-Kultur. Sie weigern sich, sich selbst als behindert zu bezeichnen. Sie sagen: 'Wir sprechen einfach eine andere Sprache, die Gebärdensprache.' Doch wenn dem so ist, warum bieten wir Übersetzungen in andere Sprachen an, aber nicht in Gebärdensprache? Es gibt auch viele Gehörlose, die keine Gebärdensprache verstehen. Was tun wir für sie?»

Äusserlich nicht erkennbare Behinderungen: «Missgebildete Organe können Behinderungen erzeugen (Nierenprobleme, schwache Lungen, Herzfehler von Geburt an, verschiedene Allergien, etc.). Oft werden solche Probleme nicht ernst genommen: 'Du siehst so gut aus', sagen die Leute. Und da diese Art von Behinderung häufig von den 'normalen' Menschen vergessen werden, denkt man nicht daran. Das ist sehr schwer für eine Person, die darunter leidet.»

Die Behinderung, nur ein kleiner Teil der Identität

Allerdings, so Swinters, muss man aufpassen, dass man verschiedene Leute nicht in eine Gruppe einordnet. «Jeder ist völlig unterschiedlich, weil eine Behinderung in unterschiedlichen Graden auftritt und die Person damit auf unterschiedlichste Weise umgeht… Wir müssen jeden Menschen als Einzelperson respektieren. Seine Behinderung ist nur ein kleiner Teil seiner Identität!»

Zur Webseite:
European Disability Network

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Datum: 26.02.2017
Autor: Rebekka Schmidt
Quelle: Livenet / Evangelical Focus

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