«Wir waren Menschen zweiter Klasse»
Geheimpolizei, Spitzel und Spione waren allgegenwärtig. Olga (Name geändert) erlebte dies umfänglich. Sie wuchs in Zentralasien auf, sie kannte Menschen, die sich zu ihrem christlichen Glauben bekannt hatten und die daraufhin im Gulag, dem sowjetischen Arbeitslager, gelandet waren, aus dem nur wenige jemals zurückkehrten.
Ein Diakon aus ihrer örtlichen Kirche kam nicht zurück; sein Leichnam wurde ins Dorf geschickt. Olgas eigener Vater war ein Gefangener aus Gewissensgründen, weit weg in Sibirien.
«Als Christen spürten wir immer die Spannung der Verfolgung», erinnerte sich Olga bereits kurz nach der Auflösung der Sowjetunion. «Es war, als wäre man ein Fisch in einem Aquarium – alles, was man tat oder sagte, wurde überwacht. Sogar die eigene Wohnung konnte abgehört werden; man fühlte sich nirgendwo frei.»
Ständig war da der heisse Atem des KGB im Nacken. «Mein Bruder und ich entdeckten irgendwann, dass unsere Wohnungen verwanzt worden waren. Wir liefen ständig auf Eierschalen.»
«Wir galten als Staatsfeinde»
In einem föderalen Staat mit 15 Nationen, vielen Kulturen und Sprachen setzte der Staat eine einzige «vereinheitlichende» Doktrin durch. 70 Jahre lang war ein gänzlich atheistischer Marxismus die offizielle Ideologie, die das intellektuelle und geistige Leben der Menschen vernebelte.
«Wir waren Menschen zweiter Klasse, Feinde der kommunistischen Ideologie, also waren wir Feinde der Gesellschaft, des Landes. Feinde des Staates! Wenn man ein Bürger zweiter Klasse ist, kann einem viel passieren.»
Die offiziell anerkannten Kirchen führten ihr stilles Dasein weiter, aber die Öffentlichkeitsarbeit war verboten und fast unmöglich. Die Führung der offiziellen Kirchen, die unter staatlicher Kontrolle standen, vertrat den Standpunkt, dass sie Kompromisse eingehen mussten, um das Überleben der Kirche zu sichern.
Die evangelikalen Kirchen zogen es vor, in den Untergrund zu gehen. Sie waren das Hauptziel der Behörden.
Niemandem konnte vertraut werden
Die Angst unter den Christen in diesen Kirchen war manchmal überwältigend. «Wir wussten nie, wem wir vertrauen konnten. Der KGB sorgte dafür, dass Spaltung und Misstrauen gesät wurden», so Olga.
«Selbst gegenüber den eigenen Brüdern und Schwestern war man sehr vorsichtig. Die gleiche Angst und das gleiche Misstrauen kann man auch heute noch unter Christen in Ländern erleben, in denen es Verfolgung gibt.»
Geldstrafen, Schikanen, Diskriminierung und Inhaftierung waren Bestandteile der Verfolgung. Anfang der 1960er Jahre, unter Nikita Chruschtschow, hatten die Behörden das Recht, christlichen Eltern ihre Kinder wegzunehmen und sie in einem Waisenhaus unterzubringen, damit sie vom Staat erzogen werden konnten.
Systematische Ausgrenzung
Christen wurden auch beruflich eingeschränkt. Der Zugang zur Universität war fast unmöglich; eine Beteiligung an politischen oder staatlichen Funktionen kam nicht in Frage. «Das alles gehörte zu dem Paket, mit dem wir als Christen während der Sowjetzeit zurechtkommen mussten.»
Zwei Jahre, nachdem Michail Gorbatschow die Führung der Kommunistischen Partei übernommen hatte, unterzeichnete er eine besondere Amnestie für die noch inhaftierten politischen Gefangenen und Dissidenten. Am 18. Juni 1987 veröffentlichte die sowjetische Regierung einen Erlass über diese Amnestie. Der Name von Olgas Vater stand auf der Liste. Er kehrte nach vier Jahren Haft nach Hause zurück.
Mit der endgültigen Auflösung der UdSSR im Dezember 1991 kam die Welle der Christenverfolgung zum Stillstand. Die Einführung der Meinungs- und Glaubensfreiheit machte es möglich, das Christentum in der stark atheistischen Gesellschaft der Nach-UdSSR zu verbreiten.
Viele neue Kirchen gegründet
Gleich nach Ende der Sowjetrepublik wurde vieles anderes. In einigen traditionellen Kirchen änderte sich der Stil der Gottesdienste, und viele neue Kirchen wurden gegründet. Die Zahl der protestantischen Konfessionen nahm rasch zu.
Obwohl die Menschen nun offiziell frei predigen und glauben durften, sah sich die Kirche bald mit neuen Herausforderungen konfrontiert. Die Vermischung von Nationalismus und Religion war eine davon. Dies gilt insbesondere für die zentralasiatischen Länder, in denen der Islam trotz der 70 Jahre Atheismus nach dem Zusammenbruch der UdSSR als Teil der nationalen Identität angesehen wurde. Wer ihn verliess, um zum Christentum überzutreten, galt als Verräter.
Wie zu Sowjetzeiten wurde auch in den postsowjetischen Ländern von den traditionellen Kirchen erwartet, dass sie die Regierung unterstützen.
Manche Probleme sind geblieben
«Die traditionellen Kirchen waren immer auf der Seite der Regierung. In dem Moment, in dem eine Kirche als regierungsfeindlich angesehen wird, gerät sie in eine Gefahrenzone», sagt William Hollander, Beauftragter für internationale Beziehungen von Open Doors in Zentralasien.
«Wie zu Zeiten der Sowjetunion besteht dieses Problem in vielen postsowjetischen Ländern, einschliesslich Russland und Weißrussland, noch immer. (...) Das Problem betrifft vor allem die evangelischen und protestantischen Kirchen; Weissrussland wird für sie immer unsicherer, und Russland schränkt ihre internationale Finanzierung stark ein.»
Nicht mehr ständig überwacht
Nachdem der Kommunismus der Geschichte angehörte, waren die Christen jedoch bereit, sich diesen Herausforderungen zu stellen, so Olga.
Die Erleichterung darüber, nicht mehr ständig überwacht zu werden, bedeutete für sie und ihre Familie, dass sie wieder aufatmen konnten.
«Anstatt uns wie Fische zu fühlen, die in einem Aquarium schwimmen und ständig beobachtet werden, begannen wir, im Meer zu schwimmen! Wir hatten dieses unglaubliche Gefühl von Freiheit. Wir haben die Freiheit, das Evangelium zu verkünden. Niemand hält uns auf.»
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Datum: 25.08.2021
Autor: Zara Sarvarian / Daniel Gerber
Quelle: Christian Today / Open Doors / Übersetzung: Livenet