Wie Demenz mich an meine Ungeduld erinnerte
Als Pflegefachfrau im Spital Emmental bin ich bereits einigen interessanten Menschen und Geschichten begegnet. Manchmal kommen mir diese Begegnungen oder Geschichten wie Gleichnisse von Jesus vor. So als würde er mich wie Petrus zur Seite nehmen und sagen: «Betrachte doch nun einmal diesen Feigenbaum.»
Eine solche Geschichte ereignete sich während meiner Berufstätigkeit in einem Demenzheim. Eines Tages ergab es sich, dass eine demenzkranke Patientin von ihren Angehörigen zum Mittagessen abgeholt werden sollte. Nichts ist schöner, bedeutsamer und würdevoller für einen Betagten Menschen, als Zeit mit seinen Liebsten zu verbringen. Möglicherweise zeigt sich im Alter etwas von Genügsamkeit und Dankbarkeit.
Zur Mittagszeit begleiteten wir alle Bewohner in den Aufenthaltsraum, alle – ausser diese eine Patientin. Sie sass im Gang und beobachtete, wie jeder einzelne Bewohner durch eine Pflegekraft eingeladen wurde, am gemeinsamen Essen teilzunehmen. Ich erklärte ihr geduldig, zum wiederholten Mal, dass ihre Angehörigen sie bald abholen würden, und sie schon bald zum Mittagessen mitnehmen würden. Sie bedankte sich freudig, dabei leuchteten ihre Augen erwartungsvoll auf. Für einen kurzen Moment sah man ihr eine unfassbare Freude an.
Immer wieder vergessen
Sie wusste, dass der Lohn ihres Wartens noch viel mehr als ein voller Bauch sein würde. Die Aussicht auf die Gemeinschaft mit ihren Angehörigen war nicht nur das Warten wert, sondern erzeugte bereits jetzt eine berauschende, für alle sichtbare Vorfreude.
Leider dauerte diese Freude immer nur kurze Momente. Ihre Freude endete damit, dass sie begann, unruhig im Gang auf und ab zu gehen. Immer wieder setzte sie sich an ihren gewohnten Essplatz, wo sie immer unruhiger werdend darauf wartete, von uns das Essen zu erhalten. Immer wieder wurde sie darauf hingewiesen, dass sie abgeholt würde, immer kürzer wurden die Episoden der Freude und immer ungeduldiger und frustrierter wurde sie…
Freude auf das, was in der Zukunft wartet
Diese Frau tat mir leid! Ich dachte mir, wie frustrierend es doch sein muss, immer wieder vergessen geglaubt zu sein. Sich fehl am Platz zu fühlen und ausgeschlossen. Das Warten war ihr unerträglich, und der Lohn ihres Wartens ungreifbar. Sie sah alle anderen und fühlte sich vergessen und verlassen. Immer und immer wieder.
Genauso verhält es sich mit meinem Glauben an Gott. Mein Vertrauen auf seine Zusagen ist sehr klein. Immer wieder gehe ich unruhig durch mein Leben und kann nicht verstehen, wie unbegreiflich es sein wird in der Ewigkeit. Ich möchte Sie ermutigen: Vertrauen Sie der geduldigen Stimme in Ihrem Inneren. Der Stimme Gottes, die sie immer wieder dazu anhält, ihn zu loben, und sich darauf zu freuen, was Sie in Zukunft erwartet. Wie es in Psalm 43, Vers 5 heisst: «Warum nur bin ich so traurig? Warum ist mein Herz so schwer? Auf Gott will ich hoffen, denn ich weiss: Ich werde ihm wieder danken. Er ist mein Gott, er wird mir beistehen!»
Zum Thema:
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Datum: 23.02.2023
Autor:
Sabrina Giliberti
Quelle:
Livenet