Leben mit Ungleichheit

«Eine psychische Behinderung ist schwieriger als eine körperliche»

Die freischaffende Theologin Simea Schwab ist ohne Arme zur Welt gekommen. Im Interview spricht sie über diese offensichtliche Ungleichheit gegenüber der Mehrheit. Ausserdem erzählt sie, weshalb sie dankbar ist, eine jüngere Schwester zu haben, und warum die Bundeshauptstadt für Menschen in einem Rollstuhl ein Affront ist.
Simea Schwab (Bild: zVg)

In welchen Situationen ist Ihnen Ihre körperliche Ungleichheit nicht oder wenig bewusst?
Simea Schwab
: In vielen. Wenn ich zum Beispiel in die Kirche gehe, mit meinen Freunden zusammen bin, dann spielt sie gar keine Rolle. Auch nicht, wenn ich mit ihnen in ein Restaurant essen gehe – falls ich dort schon einmal war (schmunzelt). Ich habe glücklicherweise Freunde, die sich nicht behindern lassen, die ein bisschen verrückt sind und Mut haben. Mit denen war ich auch schon mal Kanu fahren oder auf einer Wanderung.

Das Gegenteil kennen Sie sicher auch: dass Sie Ihre körperliche Behinderung deutlich wahrnehmen?
Ja, da denke ich vor allem an die Zugänge der öffentlichen Gebäude und ans Reisen mit dem öffentlichen Verkehr. In der Bundeshauptstadt ist es tatsächlich nicht möglich für mich, alleine aus dem Zug zu steigen – ein Affront! Die Perrons sind zu tief. So muss ich mich jeweils anmelden, dass ein Mobilhelfer mich auf meinem Elektro-Rollstuhl mithilfe eines Lifts ausladen kann. In Kerzers, wo ich wohne, kann ich jedoch zum Glück selber ein- und aussteigen. Und wenn ich von Bern ohne Hilfe nach Hause gehen will, nehme ich das Tram bis Bern Brünnen und steige dort in den Zug um.

Wie reagieren jeweils die Mitreisenden?
Es kommt vor, dass Menschen mich ansprechen und zum Beispiel fragen, ob ich einen Unfall gehabt hätte. Oft erzählen sie mir von ihren körperlichen Leiden. Manchmal kommt es mir vor, als hätte ich ein Schild auf meiner Brust, auf dem steht «Erzählt mir alle von eurem Leid» (lacht).

Ist Ihnen das unangenehm?
Nein.

Sondern?
Mich dünkt, dass die Menschen ein grosses Bedürfnis haben, zu erzählen. Ich höre grundsätzlich gerne zu. Zudem bietet es mir meistens die Gelegenheit, von Gott zu erzählen, da viele Menschen mich jeweils fragen, woher ich die Kraft für den Alltag nähme. Ich sehe mich auch als Botschafterin Gottes, automatisch auch für Menschen mit einer Behinderung. Ich bin Mitglied bei «procap» (Selbsthilfeorganisation von und für Menschen mit Behinderungen in der Schweiz, Anm. d. Red.), jedoch nicht politisch aktiv. Aber klar, an einem schlechten Tag würde ich gerne einfach für mich sein und nicht überall auffallen.

Sie können nicht nicht auffallen, stechen immer heraus.
So ist es. Früher war es noch extremer, als ich meistens zu Fuss unterwegs war. Da war ich eine Schnecke im Vergleich zur Mehrheit. Seit gut 20 Jahren bin ich nun mit einem Elektro-Rollstuhl unterwegs. Das erfordert einiges an Konzentration, so dass ich oft gar nicht mitbekomme oder nicht mitbekommen will, welche Blicke mir zugeworfen werden. Wenn ich mich mal achte, sind nicht nur negative oder mitleidige Blicke darunter, manchmal auch bewundernde. Mir fällt auf, dass viele Menschen mit sich selber oder mit ihrem Smartphone derart beschäftigt sind, dass ich achtgeben muss, dass niemand meinen Rollstuhl rammt. Solches gibt mir dann eher zu denken. Das Leid von den andern hier in Bern belastet mich: Die Menschen sind einsam, unglücklich, gestresst, obdachlos. Da ich hochsensibel bin, habe ich aber gelernt, mich selber zu schützen; ich ziehe wie ein Schutzschild an, wenn ich unter die Leute gehe.

Wie soll die Gesellschaft mit Ihrer körperlichen Behinderung umgehen – was wünschen Sie sich diesbezüglich?
Sensibilität – gerade unter Christen. Das bedeutet zum Beispiel, dass die Räumlichkeiten der Kirchen rollstuhlgängig sind oder dass es möglich ist, an «normalen» Kirchgemeindeferien teilzunehmen. Klar sind Ferien mit «Glaube und Behinderung» (eine Arbeitsgemeinschaft der SEA, Anm. d. Red.) gut, aber nur als Zusatz und nicht anstelle anderer Angebote. Kurz gesagt, hat es Jesus schon erwähnt, nämlich mit der goldenen Regel: Behandle die Menschen so, wie du gerne selber behandelt wirst.

Wie war dies als Kind?
Ich habe dazugehört. Ohne grosses Tamtam. Wo ein Wille ist, ist ein Weg. Ich bin mit vier Schwestern auf einem Bauernhof aufgewachsen. Mein grosses Glück war, dass ich nicht das Nesthäkchen geblieben bin, dafür bin ich sehr dankbar. Meine jüngere Schwester ist nur elf Monate jünger als ich. Wir sassen zusammen im Kinderwagen. Ich konnte von ihren Händen profitieren und mit meinen Füssen lernen, was sie mit ihren Händen machte.

Wo gingen Sie zur Schule?
Im Dorf, dort ging ich auch in den normalen Kindergarten. Mein Vater trug mich jeweils die Treppen zum Schulzimmer hinauf. Dass ich wirklich die Dorfschule besuchte, wäre heute wohl nicht mehr denkbar. Für meine Lehrpersonen war das sicher ein Mehraufwand. In der Primarschule begleiteten sie mich zur Toilette. Später haben diese Aufgabe meine Freundinnen übernommen. In den Teenie-Jahren stresste es mich viel mehr, offensichtlich anders als die anderen zu sein.

Haben Sie den Eindruck, dass eine Behinderung, die nicht sofort sichtbar ist, einfacher wäre?
Eine psychische Behinderung ist viel schwieriger als eine körperliche, dafür würde ich meine Hand ins Feuer legen, wenn ich eine hätte (lacht). Blocher prägte ja das Wort Scheinbehinderung. Was für eine Beleidigung für Menschen mit einer von aussen nicht sichtbaren Behinderung. Wenn man eine Depression hat, sieht man es einem ja nicht an, dass man nicht arbeiten kann.

Reden Sie aus Erfahrung?
Ja, das Jahr 2018 war für mich ein Katastrophenjahr. Ich hatte eine Depression. So stark, dass ich sehr suizidgefährdet war. Zudem stürzte ich aus meinem Rollstuhl und schlug mir dabei die Schneidezähne raus. Zum krönenden Abschluss hatte ich am 13. Dezember eine Hirnblutung. Ich hatte also viel Glück, dass ich überhaupt noch hier bin.

Was hat Ihnen in jener Zeit geholfen?
Ich hatte eine wunderbare, gläubige Psychiaterin, bei der ich eine Psychotherapie machte, nahm Medikamente und konnte auf dem Bauernhof meiner Schwester und meines Schwagers mithelfen. In jener Zeit dachte ich jedoch, dass man mein Buch «Ins Leid gepflanzt, ins Glück gewachsen» verbrennen könnte. Ich dachte, dass ich es nie hätte schreiben dürfen, oder vor allem, dass ich es zu früh geschrieben habe.

Wieso?
Gott schien mir ganz weit weg, ich konnte nicht mehr mit ihm sprechen und ich sah wirklich lange keinen Ausweg mehr. Ich verstehe jeden, der sich das Leben nimmt. Aber jetzt kann ich wieder in mein zweites Buch reinschauen und sagen, ja, das hat Gültigkeit.

Wie haben Sie wieder ins Leben zurückgefunden oder anders gesagt, wie können wir trotz Schwierigem und Unverständlichem im eigenen Leben mit Gott ins Reine kommen?
Read my book (lacht). Es gibt kein Rezept. Jeder Mensch ist anders. Es ist sicher gut, sattelfest im Glauben zu werden, be-vor die Katastrophe kommt. Dass ich nun psychisch wieder gesund bin, ist lauter Gnade. Ich habe gelernt, dass weniger mehr ist. Nun arbeite ich 20 Prozent, vor dem Burn-out waren es 50. Dass ich zur Blume werde, kann ich nicht selber machen. Klar, ich kann das meine dazu beitragen. Nicht aufgeben, Zweifel zulassen und darüber diskutieren. Jesus nachfolgen jeden Tag. Mit ihm im Gespräch sein, ein Bibelwort lesen. Aber schlussendlich, denke ich, ist es der Heilige Geist, der uns zu Blumen werden lässt. 

Buch-Tipp:
«Ins Leid gepflanzt, ins Glück gewachsen» von Simea Schwab

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Datum: 03.03.2020
Autor: Martina Seger-Bertschi
Quelle: Magazin INSIST

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