Aufbrüche in mysteriösem Land

«Christen in China laufen auf einer dünnen Eisschicht»

China ist ein mysteriöses Land. Immer wieder hört man Nachrichten über das Wachstum der Christen, über Fortschritte im Zusammenhang mit der Regierung, dann wieder über Verfolgung. Welche Nachrichten sind wahr? Wem darf man glauben? Tim Z.* ist Mitarbeiter des Missionswerks «Bibeln für China» Schweiz und mehrmals jährlich zu Besuch in dem asiatischen Land. Livenet fragte ihn zur aktuellen Situation der Christen Chinas.
Viele Christen in China haben keine eigene Bibel und müssen sie mit andern teilen.
Frauen der Minderheitengruppe der Miao singen Lieder aus einem alten Liederbuch in ihrer Sprache.
In einem Dorf der Bai liest Tim Z. den Christen dort aus der Bibel vor.
Eine Gemeinde freut sich über eine Bibellieferung.
Tim Z. von «Bibeln für China» verteilt nach dem Gottesdienst Bibeln.
Nach einer Bibelverteilung in einer Gemeinde auf dem Land

Livenet: Man hört sehr unterschiedliche Nachrichten aus China, manche äusserst positiv von grossem Wachstum der Gemeinden und immer mehr Akzeptanz seitens der Regierung, dann wieder Nachrichten von grosser Verfolgung. Wie haben Sie die Situation der Christen Chinas im vergangenen Jahr erlebt?
Tim Z.: Bei meinem allerersten Besuch in China 2014 bat ich einen unserer Lehrer, China in einem Satz zu beschreiben. Er sagte: «Hier ist alles nur Fassade; hinter einem Berg verbirgt sich immer ein weiterer.» Nach zwei Jahren Einsatz bei «Bibeln für China» verstehe ich, was er damit gemeint hat. China ist so gross wie Europa, hat 23 Provinzen und fünf autonome Regionen, 57 Ethnien und unzählige Sprachen und Dialekte. Vom Norden bis zum Süden ändert sich alles. Vom siberischen Klima zum Monsunregen, von Mandarin zu Kantonesisch. Sogar die Menschen verändern sich: Die Nordchinesen sind grösser als die Südchinesen.

So unterschiedlich die Chinesen sind, so ist auch die Einstellung der Regierung gegenüber den Christen überall anders. Die grossen Städte entlang der Küste sind liberaler und die Christen können ihren Glauben dort ausleben und eine Bibel besitzen – auch wenn es schwierig ist, eine zu bekommen –, solange sie nicht über den Glauben sprechen. Im Herzen Chinas, in Sichuan, Anhui und Guizhou ist die Verfolgung grösser. Peking ist weit weg und die kommunistischen Führer der Provinzen machen die Politik, wie sie ihnen gefällt. In den westlichen Medien, die auf Skandale versessen sind, wird China reduziert auf Peking und Shanghai mit ihren Fassaden von Wohlstand und Offenheit. So bleibt der Machtmissbrauch in abgelegenen Gebieten ungestraft.

Was auf alle Christen in China zutrifft, ist, dass sie auf einer dünnen Eisschicht laufen, die einzubrechen droht. Sie wissen nicht, wie weit sie gehen können, sogar in Zhejiang, dem «Jerusalem Chinas». Dutzende zerstörte Kirchen, 1'200 entfernte Kreuze... Und Präsident Xi Jingping erklärt, dass «man sich bemühen soll, die Religionen in die sozialistische Politik zu integrieren»... Jede Woche erhalten wir Anrufe von Menschen, die uns herzzerreissende Geschichten von Verfolgung erzählen, die jedoch niemand mitbekommt, weil sie weit weg vom Rampenlicht passieren. Wie eine grosse Hausgemeinde in Guiyang, Guizhou, zu der wir Bibeln geschickt haben. Ich habe ihren Pastor im Juni 2014 getroffen. Damals war es eine dynamische Gemeinde mit 200 Mitgliedern und einigen hundert Bekehrungen pro Jahr sowie Missionsteams, die zu den Miao-Stämmen in den Bergen gingen. Ich fragte sie: «Habt ihr nicht Angst vor der Polizei?» Und er lachte: «Die Polizei? Was kann die uns schon antun ? Wenn es sein muss, sind wir bereit, ins Gefängnis zu gehen.» Vor ein paar Monaten, Ende 2015, wurden die Gottesdienste verboten, der Besitz wurde konfisziert, der Pastor inhaftiert.

Als Missionar stand ich überall unter Druck, da meine Gegenwart in den Gemeinden geheim war. Ich riskierte es, abgeschoben zu werden und meine Freunde, verhört zu werden oder noch Schlimmeres...

Was genau machen Sie auf Ihren Reisen? Wie unterstützen Sie die Christen Chinas?
Als Botschafter von BFC besuche ich die Gemeinden in China und schätze vor Ort ab, was für Bedürfnisse sie haben, sammle Adressen und Geschichten. Wir suchen immer wieder Kontakte, die uns ermöglichen, zu den ärmsten und hilflosesten Menschen zu gelangen. In Nordchina konnte ich in jeder besuchten Gemeinde eine Andacht halten und ihnen Grüsse von Schweizer Christen überbringen.

Die Sicherheit der Christen geht über alles. Das Schema ist einfach. Ein Lieferwagen holt uns ab und wir werden direkt am Eingang der Gemeinde «abgeladen». Man darf nicht vor der Türe stehen bleiben. Dann nehme ich am Gottesdienst teil, halte eine Andacht und sammle Geschichten und Zeugnisse. Zum Schluss verteilen wir Bibeln, ganz schnell, maximal 10 Minuten. Das ist der einzige Moment, bei dem ich einige Fotos machen kann. Die meiste Zeit muss ich versteckt fotografieren. Dann gehen wir gleich weiter, ohne uns noch lange aufzuhalten lassen.

Für die chinesischen Christen ist das der Höhepunkt des Jahres. Viele haben noch nie Ausländer zu Besuch gehabt. Wir müssen sie auch bitten, keine Fotos zu machen. Da sie sich so sehr über unseren Besuch freuen, ist das Risiko gross, dass sie die Fotos anderen zeigen und dann die Polizei von uns erfährt. Unsere Übersetzerin, die schon viele solcher Missionsreisen erlebt hat, erzählte uns, dass eine Gruppe einmal mitten in der Nacht das Hotel innerhalb von 15 Minuten verlassen musste: «Mitten in der Nacht erhielt ich einen Anruf von einer unbekannten Nummer. Eine weibliche Stimme sagte mir, dass die Polizei auf dem Weg sei. Ich warnte alle, habe meine nasse Wäsche zusammengerollt und 15 Minuten später waren wir schon weg…»

Zurück im Büro beginnt dann die Arbeit, die ich «den unsichtbaren Teil des Eisbergs» nenne. Zuerst bearbeite ich das gesammelte Material für Berichte – nicht nur mein Material, sondern auch das unserer Mitarbeiter aus China.  Dann prüfen wir mögliche Projekte – welche sind umsetzbar und können eine dringendes Bedürfnis erfüllen? Und schliesslich die Umsetzung der Projekte und ihre Nachverfolgung sowie logistische Aufgaben.

Werden immer noch Bibeln nach China geschmuggelt?
Ja, es werden immer noch Bibeln ins Land geschmuggelt, denn der Schmuggel ist die einzige Möglichkeiten, die Anzahl der Bibeln, die im Innern des Landes im Umlauf sind, zu erhöhen. Die Mission BFC hat sich zum Ziel gesetzt, Bibeln in grosser Zahl zu den chinesischen Christen zu bringen – und in andere Länder. Auch die Ethnien im Süden Chinas werden so beliefert. Die kommunistische Partei behauptet zwar, dass Bibeln in China verfügbar sind, aber was sie nicht sagen, ist, dass nur vier Millionen Bibeln pro Jahr gedruckt werden dürfen, während es in China jährlich mindestens acht Millionen neue Christen gibt. Stellen Sie sich vor, dass jedes Jahr, mindestens vier Millionen Christen in China keine Bibel besitzen dürfen, obwohl es ihr grösster Wunsch wären, eine zu haben… Ich darf nicht im Detail über den Schmuggel sprechen aber ich kann sagen, dass es eine der schwersten Missionsaufgaben ist, welche an den körperlichen und moralischen Kräften des Missionars zehrt. 

Was sind die grössten Schwierigkeiten der Christen in China?
In der Stadt sowie auf dem Land ist die grösste Herausforderung der Christen in China, das Herz des Evangeliums zu verstehen. Da es wenige Bibeln gibt, nähren viele Christen ihren Glauben nur mit dem, was sie vom Pastor hören, die selbst keine vertieften theologischen Kenntnisse haben.

Ein Geschäftsmann antwortete mir auf dieselbe Frage: «Die grösste Gefahr für die Christen in China ist es, falschen Göttern nachzufolgen.» Die kommunistische Partei hat es verstanden, den Elan der Christen abzuschwächen. Anstatt sie mit Verfolgung zu belasten, predigen sie eine andere Religion, jene des Wettbewerbs und des Konsums. Eine chinesische Journalistin hat mir anvertraut: «In China, musst du kämpfen, um Erfolg zu haben. Die Menschen opfern ihr Vermögen, ihr Glück und ihre Gesundheit, um eine gute Ausbildung und eine gute Arbeit zu finden.» Den Kapitalismus anzuwenden, die individuellen Freiheiten einzuschränken, Materialismus in einem Land zu lehren, das noch nie von Jesus gehört hat – das macht aus einem Menschen eine Maschine, die keinen anderen Lebensinhalt hat als Geld zu verdienen und Spass zu haben. Das ist das Gegenteil von dem, was für einen Menschen gut ist!

Wie können europäische Christen die Christen Chinas unterstützen?
Als ihre Brüder und Schwester im Glauben, können wir sie im Gebet unterstützen und anderen von ihrer Situation zu erzählen. So wird die Chance grösser, dass die Menschen ihren Ruf hören und sich in der Mission engagieren. Mehr und mehr Chinesen kommen nach Europa und auch in die Schweiz, um zu studieren und zu arbeiten. Das ist für uns eine grossartige Gelegenheit! Gehen wir also auf sie zu. Sie brauchen das, denn sie sind oft allein, weit weg von ihrer Heimat. Dann können wir ihnen von Jesus erzählen, indem wir sie willkommen heissen und ihnen eine Bibel schenken. In China habe ich oft gehört: «Wenn die Chinesen das Wort Gottes als Geschenk erhalten, vor allem von einem Fremden, schätzen sie es viel mehr und werden es eifrig lesen!» Wenn Sie nicht wissen, wo sie eine chinesische Bibel oder ein Neues Testament finden, können Sie uns kontaktieren und wir senden es Ihnen kostenlos zu.

Ich glaube auch, dass wir nicht vergessen sollten, für die Missionare in China zu beten. Jeden Tag trotzen sie einer ganz anderen Kultur und einer anderen Welt. Für uns ist China wie der Mars – man fühlt sich wie ein Alien, denn wir sind gross und weiss und alle schauen uns an – und wie ein Analphabet, denn alles ist in rätselhaften Zeichen geschrieben, die extrem komplex sind. Wenn man sich verläuft, steckt man in der Patsche, denn ohne Sprachkenntnisse weiss man nicht einmal, in welcher Strasse man sich befindet, und kaum jemand spricht dort Englisch. Und man fühlt sich, als ob man einen gebrochenen Arm hätte, wenn man mit Stäbchen essen muss... Es ist wirklich hart! Deshalb bete ich regelmässig für unsere Mitarbeiter, die diese Sisyphusarbeit machen, und immer im Hintergrund stehen. Ich schreibe ihnen auch regelmässig ermutigende Emails.

Wie sehen Sie – oder die christlichen Leiter im Land – die Zukunft des Christentums in China? Wird China sich noch weiter öffnen?
Ich habe Angst, dass sich der Kommunismus in China noch lange halten kann. Viele Chinesen denken auch, dass man ein so grosses Land nur mit eiserner Faust führen kann. Persönlich träume ich von einem absolut freien und offenen China – und bete, dass Gott dem Kommunismus und der Unterdrückung ein Ende setzt. Ich sehe so viele Projekte, so viele Initiativen, die man starten könnte. Und ich sehe, wie Gott Gebet erhört. Bereits mit der Öffnung Chinas gibt es viel mehr Möglichkeiten für Missionare und die Missionsarbeit in China. Aber solange die kommunistische Partei in China regiert, ist die Situation schwierig. In meiner Korrespondenz ist das Wort «Bibel» verboten, ich schreibe stattdessen «Bücher». Und egal, wo ich bin, schicke ich nie vertrauliche Informationen, die Christen gefährden könnten per E-mail. Ich habe auch ein separates Konto für diese Zwecke.

Wie sehen Sie als aussenstehender Kenner der Szene die massive Aussendung chinesischer Missionare in alle Welt, die für 2016 und die kommenden Jahre geplant ist?
Ich finde es genial! China hat bald die meisten Christen auf der ganzen Welt – es sind bereits mehr als 100 Millionen, vielleicht sogar 150 Millionen, gemäss Schätzungen. Der Auftrag von Jesus «Machet Jünger in allen Nationen» ist auch an sie gerichtet! Ich kann es gar nicht erwarten, denn wir können viel von unseren Geschwistern in China lernen, ihre Herzlichkeit und frische Sichtweise der Bibel, denn für sie ist die Gute Nachricht wirklich eine Neuigkeit! Es ist auch ein Volk, das beten kann, und das die Bibel voller Neugier entdeckt und studiert und die sich nach Gottes Wirken sehnt.
In allen Gemeinden im Norden, die ich besucht habe, kamen Menschen nach dem Gottesdienst zu mir, damit ich für sie und spezielle Bedürfnisse bete. Das hat mich sehr berührt und ich sagte ihnen: «Ihr wollt, dass ich für euch bete, dabei bin ich derjenige, der eure Gebete braucht!»

Zur Person:
Tim Z.*, Jhrg. 1991, ist Mitarbeiter des Schweizer Missionswerkes «Bibeln für China» (BFC), das Bibeln unter den chinesischen Hausgemeinden verteilt, aber auch unter den armen Ethnien in Yunnan und an einzelne, die per Internet um eine Bibel bitten. Er ist als Übersetzer und Designer tätig und pflegt den Kontakt mit Partnermissionen in Hong Kong.

Zur Webseite:
Bibeln für China

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Datum: 15.02.2016
Autor: Rebekka Schmidt
Quelle: Livenet.ch

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