«Der Gesetzgeber versucht zunehmend, die Verfassung auszuhebeln»
Für die Rechtsprofessorin an der Universität Zürich ist klar, dass die «Ehe für alle» eine Änderung der Bundesverfassung benötigt, auch wenn die Verfassung nicht ausdrücklich festhält, dass die Ehe aus Mann und Frau besteht. Denn dies dürfe vorausgesetzt werden. Auch der Bundesrat und das Bundesgericht hätten das in den letzten 21 Jahren bestätigt. Zudem habe der Bund vor erst 15 Jahren die eingetragene Partnerschaft explizit als Alternative zur Ehe eingeführt.
Ständerat entschied gegen das Gutachten
Isabelle Häner hatte für die Rechtskommission des Ständerates dazu ein Gutachten verfasst. Daher wurde die Frage auch im Rat behandelt, der letzte Woche knapp mit 22:20 Stimmen entschied, dass die Ehe für alle ohne Verfassungsänderung auf dem Gesetzesweg eingeführt werden könne, nachdem dies schon der Nationalrat beschlossen hatte.
Sauber wäre nur eine Verfassungsänderung
Für die Rechtsprofessorin, die persönlich die Ehe für alle befürwortet, ist jedoch klar, dass nur eine Volksabstimmung über eine Verfassungsänderung der rechtlich saubere Weg ist. Sie sagt in einem Interview mit der NZZ vom 28. November: «Ich stelle einfach fest, dass der Gesetzgeber zunehmend versucht, die Verfassung auszuhebeln. Die Ehe für alle ist das beste und bisher eindeutigste Beispiel. Dasselbe gilt für die Fortpflanzungsmedizin für lesbische Paare, die ebenfalls erlaubt werden soll.» Häner dazu: «Laut Verfassung darf die Fortpflanzungsmedizin nur bei Unfruchtbarkeit helfen.»
«Stimmen wir doch einfach ab»
Die Juristin will die Veränderungen nicht verhindern und sagt lapidar: «Stimmen wir doch einfach ab.» Laut Häner müsste der neue Verfassungsartikel dann so lauten: «Das Recht auf Ehe und Familie ist gewährleistet, unabhängig des Geschlechts.» Die Parlamentsmehrheit scheint jedoch Angst vor einer Volksabstimmung über eine Verfassungsänderung zu haben, die auch ein Ständemehr benötigt. Sollte es zu einem Referendum über das Gesetz kommen, würde nur die Volksmehrheit entscheiden.
Bundesverfassung verliert an Bedeutung
Isabelle Häner ortet im NZZ Interview – bereits im Bundesrat – eine Tendenz, die Bundesverfassung bei neuen Gesetzen nicht mehr allzu ernst zu nehmen: «Schauen Sie die Botschaften des Bundesrates an. Früher befassten sich die Botschaften vertieft mit den Verfassungsgrundlagen. Heute wird die Frage, ob ein Gesetz mit der Verfassung kompatibel ist, bestenfalls auf einer Seite abgehandelt.» Andererseits werde die Frage, ob ein Gesetz mit internationalem Recht vereinbar sei, seitenlang erörtert.
Schaden für den Rechtsstaat
Isabelle Häner legt somit den Finger auf einen zunehmend wunden Punkt, der darin besteht, dass das Parlament der Versuchung erliegt, den Zeitgeistveränderungen und wirksamen Lobbygruppen per Verfassungsänderung entgegenzukommen, auch wenn sie damit die Stellung der Bundesverfassung aushebelt. Damit aber höhlt es den Rechtsstaat auf subtile Weise aus. Vielleicht wiegt dieses Argument in der öffentlichen Debatte mehr als die Verteidigung ethischer Werte, die für einen Grossteil der Bevölkerung nicht mehr überzeugend sind.
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Datum: 05.12.2020
Autor: Fritz Imhof
Quelle: Livenet