Warum lässt Gott das Böse zu?
Diese Frage nagt an vielen und hindert sie daran, einem angeblichen Gott der Liebe ihr Vertrauen zu schenken. Es ist so, wie mir vor Jahren ein Student sagte: «Sie wollen, dass ich an Ihren Gott glaube. Aber dann erwarte ich zuallererst, dass er eine bessere Welt erschafft!»
Wenn er uns Menschen tatsächlich liebt, wie es in der Bibel heisst, warum vernichtet er nicht das ganze Elend und bringt alles in Ordnung? Als allmächtiger Gott könnte er doch sofort alles ändern. Und wenn er nicht allmächtig ist, warum sollten wir dann auf ihn eingehen?
Gerade weil das Böse neben dem Guten existieren darf, werden so viele zu Atheisten. Die Frage lautet also: Wenn ein und dasselbe Wesen sowohl das Gute als auch das Böse, sowohl das Schöne als auch das Hässliche zulässt und plant, ist dann nicht alles ernsthafte Denken über ihn unmöglich?
Die ruhmreichen Dombauer
Vielleicht kann ein persönliches Erlebnis diese Fragen besser klären als theoretische Erörterungen. Vor dem Zweiten Weltkrieg besichtigte ich oft den Kölner Dom. Dieses schöne gotische Bauwerk mit seinen anmutig emporstrebenden Pfeilern, dem prächtigen hochgewölbten Dach, den mittelalterlich bunten Glasfenstern und der Orgel bewunderte ich besonders, manchmal stundenlang. Je mehr ich mich in diesen Bau vertiefte, desto mehr wuchs meine Achtung vor dem Baumeister und den Maurern, die im Laufe von Jahrhunderten diesen schönen Dom entwarfen und erbauten. Sie waren Fachleute ersten Ranges, die nicht nur die mathematischen Grundlagen ihrer Arbeit genaustens kannten, sondern auch einen ausgeprägten Sinn für Schönheit besassen. So bewunderte ich unsere Vorfahren, als ich ihr Handwerk untersuchte. Wenn man bedenkt, dass sie keine modernen Maschinen besassen, die ihnen ihre Arbeit erleichtert hätte, dann ist ihr damaliges Werk nichts anderes als ein Wunder.
Die Bauweise dieses Doms zeigt also zweifellos etwas von dem Geist, der dahintersteckt. Einfach so entsteht so etwas nicht. Dafür brauchte es höchste Sachkenntnis. – Oder ich müsste an meinem eigenen Verstand zweifeln.
Ein Kunstwerk wird zerstört
Doch während des Krieges war dann Köln das Ziel der vielleicht schwersten Luftangriffe in ganz Westeuropa. Da der Dom direkt am Rangierbahnhof steht, der regelmässig angegriffen wurde, traf es auch ihn oft. Viele Male wurde er schwer beschädigt. Ich erinnere mich noch gut an die grosse Enttäuschung, als ich ihn im Herbst 1946 wiedersah. Die beiden berühmten Türme standen noch und ragten aus einem furchtbaren, unvorstellbaren Trümmerfeld empor. Ausser dem Dom selbst war fast alles dem Erdboden gleichgemacht. Von ferne sahen die Türme noch gut aus, aber wenn man davor stand, erkannte man riesige Löcher im massiven Mauerwerk. Mit Unmengen von Beton und Ziegelsteinen hatte man in einem der Türme ein Riesenloch notdürftig ausgebessert, das eine Sprengbombe gerissen hatte. Das Dach war in Trümmern, die Orgel zerstört, die Fenster herausgefallen und überall zerfetztes Holz, pulverisiertes Mauerwerk und riesige Steinblöcke, die manche Bombenkrater füllten.
Ist wirklich alles vernichtet?
Dieses drastische Bild machte einen tiefen Eindruck auf mich, wenn ich es mit der früheren Schönheit und Erhabenheit dieses Doms verglich. Aber an einem musste ich trotz alledem nie zweifeln: An der ursprünglichen Absicht und Fähigkeit seiner Architekten und Handwerker, geschweige denn an deren Existenz. Ich hatte keinen Grund dazu. Selbst die Überreste ihrer Arbeit führten noch die frühere Schönheit ihres Bauwerks vor Augen. Die mächtigen aufstrebenden Pfeiler standen noch, die anmutigen gotischen Bogen waren noch da, und sogar die Bombenlöcher im Mauerwerk offenbarten noch das Können dieser Männer, selbst an Stellen, die jahrhundertelang menschlichen Blicken entzogen waren. Da kam nirgends irgendein Pfusch zum Vorschein, nichts nur mit Stuck Überzogenes oder andere Tricks, wie man sie von modernen Gebäuden kennt. – Wer wollte nun nachträglich die Architekten anklagen, sie hätten eine Ruine gebaut?
Also: Nur weil der Dom jetzt teilweise in Trümmern lag,
- sollte am Anfang kein erfinderischer Geist dahintergestanden haben?
- sollte man von diesem Geist keine Spuren mehr wahrnehmen können?
Die Schöpfung im Zwielicht
In einem ähnlichen Zustand befindet sich heute die Schöpfung: In einem Ineinander von Ordnung und Chaos, Schönheit und Hässlichkeit, Licht und Dunkel, Liebe und Hass. Aber sollte deswegen kein schöpferischer Geist dahinterstehen? Sollte der Atheist recht haben, der «nichts als Widersprüche» erkennt und einen schaffenden Gott darum abschreibt?
Gehen wir zu einem weiteren Beispiel. Die Erforschung der Krebszellen, den «Ruinen» im Bauwerk des menschlichen Körpers, hat den Forschern ganz nebenbei auch vieles über den Aufbau und die Struktur gesunder Körperzellen gezeigt, auf das sie auf andere Weise wohl kaum gestossen wären. Ja, die Schöpfung liefert ein zwiespältiges Bild. Gut und Böse sind in ihr vermischt. Und dennoch ist es logisch unhaltbar, daraus abzuleiten, dass es überhaupt keinen Schöpfer gebe oder nichts über seinen Geist sagen könne, auch wenn die Atheisten und Agnostiker eben dies vertreten.
Im bekannten ersten Kapitel des Römerbriefs lehrt die Bibel, dass Krankheit, Tod, Hass und Hässlichkeit Hinweise auf einen Zustand der «Unordnung» sind, die sie sich klar von Gesundheit, Leben, Liebe und Schönheit, dem ursprünglichen, unbeschädigten Zustand, abgrenzen lassen.
Dankbar oder stumpf?
Es ist dasselbe Kapitel, das eben diese Gedankengänge darlegt, wie ich sie am Beispiel der Kölner Doms dargestellt habe: Die Schöpfung zeigt uns auf, dass Gott ein herrlicher, allmächtiger Schöpfer ist und das Universum seine Handschrift trägt. «Denn was man von Gott erkennen kann, ist unter ihnen offenbar; Gott hat es ihnen offenbart. Denn Gottes unsichtbares Wesen, das ist seine ewige Kraft und Gottheit, wird ersehen seit der Schöpfung der Welt und wahrgenommen an seinen Werken, so dass sie keine Entschuldigung haben» (Die Bibel, Römerbrief 1, Vers 19.20).
Ein Mensch, der das Weltall betrachtet und dabei nicht gleichzeitig Rückschlüsse auf die Macht Gottes zieht, steht demnach ohne Entschuldigung da. Ja, mehr noch: Gleich im nächsten Vers wird beschrieben, was dabei herauskommt, wenn man Gott nicht für seine überwältigenden Wunder dankt, die man doch hat wahrnehmen dürfen. Er wendet dann nämlich «seine Gedanken dem Nichtigen zu», und «sein unverständiges Herz wird verfinstert». Das heisst, er wird allmählich unfähig, auch sein Denken auf rechte Weise zu gebrauchen, und seine Seele stumpft ab.
Angemessen und logisch wäre es hingegen, wenn der ehrlich denkende Mensch Gott dankt und anbetet, weil er ihn sogar noch in der gefallenen oder «zerstörten» Schöpfung erkennt. Das allein wäre den Tatsachen angemessen.
Ist Gott ohnmächtig?
Dennoch: Warum lässt Gott das Böse zu? Alle Veranschaulichungen bleiben unvollständig; das Beispiel unseres Doms ist da keine Ausnahme. Auch dieses Bild hinkt irgendwie: Die Erbauer des Doms, die seit langem tot sind, konnten die Bombardierung ihres Meisterwerkes nicht verhindern. Gott hingegen ist nicht tot, wie viele zu Unrecht annehmen. Das macht unsere Frage aber nur umso schwieriger: Warum konnte nicht einmal ein allmächtiger Gott, sein Meisterwerk, die Schöpfung, die er doch wohl liebt, vor einer «Bombardierung» schützen?
Gehen wir in unserer weiteren Überlegung von dieser Liebe aus und schauen sie uns genauer an. Wie ist diese Liebe beschaffen? Es könnte sein, dass sich unser Problem auf diese Weise recht schnell löst und zwar auf eine Weise, die durchaus auch den Verstand zufriedenstellt.
Die Ohnmacht der Liebe
Die Liebe des Sohnes Gottes, Jesus Christus, zu uns Menschen wird oft mit der Liebe verglichen, die ein junger Mann für seine Braut empfindet. Christus bezeichnet sich wiederholt als den Bräutigam und die Gemeinde als seine Braut. Wie begann die Liebe zwischen Braut und Bräutigam? Eines schönen Tages sah der junge Mann das Mädchen und empfand eine Zuneigung zu ihr. Die junge Dame mag das zunächst gar nicht bemerkt haben. Aber dann begann er sie zu umwerben. Vielleicht überreichte er ihr Blumen oder machte irgendwie anders auf sich aufmerksam und allmählich möchte er eine ganz brennende Frage beantwortet haben: Wird meine Zuneigung von ihr erwidert?
Das ist umso eher der Fall, je heftiger der junge Mann seine Angebetete umworben hat. Sobald jedoch an die Stelle des Werbens Zwang tritt, hören Freude und Liebe auf, und Hass und Leid ersetzen sie. Denn ihrem ganzen Wesen nach beruht Liebe auf der freien gegenseitigen Zustimmung, verbunden mit der absoluten Achtung des freien Willens des Partners. Anders ausgedrückt: Die Grundlage der Liebe ist die Freiheit zu lieben, die gegenseitige Einwilligung dazu, die absolute Freiwilligkeit beider Partner, mit der sie sich ihrer gegenseitigen Zuneigung versichern. Ohne diese Freiheit ist wahre Liebe unmöglich.
Wie wäre das nun, wenn Gott den Menschen so geschaffen hätte, dass er keine eigene Entscheidung treffen, sondern nur automatisch Gottes Willen tun könnte, wie ein Schloss, dass unwillkürlich dem richtigen Schlüssel gehorcht? Oder wie ein Verkaufsautomat, das beim richtigen Geldbetrag einen Riegel Schokolade liefert. Wenn der Mensch so beschaffen wäre, dass er Liebe gäbe, wenn Gott nur auf den richtigen Knopf drückte, wäre das dann tatsächlich Liebe? Um der Liebe sicher zu sein, muss Gott uns einen freien Willen zum Lieben oder Nichtlieben geben. Sonst könnten wir sie nie aus freier Entscheidung erwidern. Und Gott wäre dann tatsächlich der Diktator, als den ihn viele betrachten und von dem sie meinen, er würde auch in unseren Tagen brutale Gewalt ausüben.
Die Freiheit des Geliebten
Als Gott die Welt erschuf, wollte er damit das Allerbeste. Gerade darum musste er ihren Bewohnern echte Freiheit garantieren und das tat er auch. Somit war jeder imstande, echte Liebe zu üben: Mit Liebe umworben zu werden und um Liebe zu werben –oder diese abzulehnen. Schon allein die Tatsache, dass es in der Welt das Böse gibt, zeigt, dass sie von einem allmächtigen Gott geschaffen wurde. Denn nur so kann das Gute wirklich gut und die Liebe nichts anderes als Liebe sein. Liebe ist eben nicht einfach «eine versteckte Form des Egoismus», wie es manchmal heisst. Noch einmal: Das Vorhandensein des Bösen in der Welt liefert kein Argument gegen einen Gott, der echte Liebe ist, sondern ganz im Gegenteil: Gerade weil er Liebe ist, lässt er auch das Böse zu, damit wir uns frei für seine Liebe entscheiden können.
Viele werden sich an dieser Stelle fragen, warum denn Gott überhaupt den Menschen und die Welt erschuf. Er muss doch das Chaos vorausgesehen haben, das dieser freie Wille anrichten würde. Wäre es da nicht besser gewesen, dies alles gar nicht erst passieren zu lassen? Dieselben Fragen stellen sich im Grunde genommen in unserem eigenen Leben, zum Beispiel in der Ehe. Bei der Trauung wissen wir, dass wir einmal den Schmerz der Trennung durch den Tod erleben werden. Und doch nehmen wir all diesen Kummer und das Herzeleid auf uns. Wir wissen, dass der Schmerz kommen wird, aber wir glauben dennoch, dass die Freude und die Bereicherung, die diese neue Gemeinschaft in unser Leben bringt, besser ist als überhaupt keine Liebe.
Trotz allem wagte Gott also seine Schöpfung. Er muss davon überzeugt gewesen sein, dass die Wärme der Liebe die Bitterkeit des Leidens immer noch weit übertreffen wird. Auch nur ein Tag Liebe ist unendlich viel mehr als überhaupt keine Liebe; und wo Leben ist, entsteht Gelegenheit zur Liebe.
Liebe bis zum bittersten Schmerz
Auch Gott wusste, dass der Schmerz kommt. Er sah die falsche Willensentscheidung seines liebsten Geschöpfes voraus, alles Chaos und Verderben, das damit in die Welt kam. Und was tat er, als es dann soweit war? Nicht das, was wir selber vielleicht an seiner Stelle gemacht hätten. Er geriet nicht in Zorn und vernichtete nicht alles wieder auf der Stelle. Vielmehr versuchte er in schier endloser Geduld zu retten und wiederherzustellen. Er will uns zurückholen in die Nähe zu ihm, wie sie ursprünglich gedacht war. Genau aus diesem Grund sandte er seinen Sohn, der sein Leben freiwillig für uns Menschen hingab. Unsere Auflehnung sollte ein für allemal beendet werden, indem der Preis dafür bezahlt wurde: Der Tod, Sein Tod. Freiwillig und aus eigener Entscheidung nahm er ihn auf sich und versuchte nicht einmal, sich zu verteidigen. Für uns hat er all das auf sich genommen, bis zum bitteren Ende, bis zum glorreichen Ende.
Das ist seitdem die Botschaft von Jesus an uns: Gott wartet und wirbt um uns und hofft, dass wir das erkennen und darauf antworten. Wir dürfen diesen auferstandenen Jesus anreden und unsere ruinierte Seelenlandschaft von ihm wiederherstellen lassen. Nicht alle Menschen werden dieses Angebot willkommen heissen und darauf eingehen. Aber wir wissen ja inzwischen: Die Liebe zwingt nicht. «Sie ist langmütig und freundlich ... sie lässt sich nicht erbitten, sie rechnet das Böse nicht zu ... sie verträgt alles, sie duldet alles. Die Liebe hört niemals auf» (Die Bibel, 1. Korintherbrief 13, Vers 4-8).
Datum: 11.10.2011
Autor: A.E. Wilder-Smith