Neid
Das Gleichnis vom Verlorenen Sohn ist eines der bekanntesten der Bibel. Der Fokus liegt dabei meistens auf dem jüngeren Sohn, der den Vater verliess. Doch was ist mit dem Älteren? «Währenddessen war der ältere Sohn draussen auf den Feldern und arbeitete. Als er heimkam, hörte er Musik und Tanz im Haus und fragte einen der Diener, was da los sei. 'Dein Bruder ist wieder da', erfuhr er, 'und dein Vater hat das Kalb geschlachtet, das wir gemästet hatten, und gibt nun ein grosses Fest. Wir feiern, dass er wohlbehalten zurückgekehrt ist.' Da wurde der ältere Bruder zornig und wollte nicht ins Haus gehen. Sein Vater kam heraus und redete ihm zu, aber er sagte: «All die Jahre habe ich schwer für dich gearbeitet und dir nicht ein einziges Mal widersprochen, wenn du mir etwas aufgetragen hast. Und in dieser ganzen Zeit hast du mir nicht einmal eine junge Ziege gegeben, um mit meinen Freunden ein Fest zu feiern. Doch jetzt, wenn dein Sohn daherkommt, nachdem er dein Geld mit Huren durchgebracht hat, feierst du und schlachtest unser bestes Kalb.' Sein Vater sagte zu ihm: 'Sieh, mein lieber Sohn, du und ich, wir stehen uns sehr nahe, und alles, was ich habe, gehört dir.'» (Lukas Kapitel 15, Verse 25-31)
Ich mag an diesem Bibelwort, dass ich einen ehrlichen Einblick in eine ganz normale Familie damals bekomme. Eine Familie mit unterschiedlichen Charakteren, die sowohl gute als auch falsche Entscheidungen treffen und das gemeinsam miteinander aushalten. Eine Familie, in der jeder einen Platz hat. Eine Familie, in der man Fehler machen und sich verzeihen kann. Das hilft mir, mich mit mir und meiner Familie normaler zu fühlen. Und gibt mir Hoffnung, dass es immer wieder Neuanfänge geben kann.
Gottes Arme sind offen
Das Gleichnis vom Verlorenen Sohn ist eines der beliebtesten und bekanntesten Gleichnisse von Jesus. Schwerpunkt dieser Erzählung ist die Botschaft, dass Gott wie der Vater im Gleichnis alle seine Kinder mit offenen Armen empfängt. Dabei steht meistens der «verlorene» Sohn im Fokus – derjenige, der sich von der Familie abgewandt hat, offensichtlich falsche Wege einschlagen hat, der gescheitert ist und nun Versöhnung sucht. Im Grunde aber zeigt das Gleichnis, dass Gottes Arme genauso offen sind für seinen anderen Sohn – für den, der treu zu Hause geblieben ist, für den guten, angepassten, fleissigen Sohn, der sich nie etwas hat zuschulden kommen lassen. Der aber ein Geheimnis hat, das erst aus ihm herausplatzt, als dieses grosse Fest für seinen Bruder ausgerichtet wird. Ja, vielleicht hat er es selbst erst in diesem Moment gemerkt, wie neidisch er ist und dass er sich ungerecht behandelt fühlt.
In der Bibel wird Neid meist als negativ bewertet und seine Gefahren werden betont. «Ein gelassenes Herz ist des Leibes Leben; aber Neid ist Eiter in den Gebeinen», heisst es in Sprüche Kapitel 14, Vers 30. Und jeder, der schon einmal neidisch war, wird das kennen. Es ist ein sehr unangenehmes Gefühl – sozial unerwünscht und schambehaftet. Wer gibt schon gerne zu, neidisch zu sein? Der weise Vater im Gleichnis aber spürt dieses Gefühl heraus und verurteilt es nicht. Im Grunde bewertet er es gar nicht. Er gibt eine sachliche Antwort auf eine emotionale Frage.
Neid ist nicht per se negativ
Geht man davon aus, dass hinter jedem Gefühl ein erfülltes bzw. unerfülltes Bedürfnis steht, lohnt es sich, hier einmal genauer hinzuschauen. Neidisch können wir nur werden, wenn wir uns mit anderen vergleichen und dabei einen Mangel in unserem Leben feststellen. Es steckt also der Wunsch nach einem «Mehr» im Leben dahinter. Manchmal sind uns unerfüllte Wünsche bereits bewusst, manchmal spüren wir diese Wünsche aber auch erst in dem Moment, wenn wir sie bei anderen erfüllt sehen.
Dabei kann sich Neid auf Materielles wie auch auf Ideelles beziehen: ein grosses Haus, ein schöner Urlaub, Erfolg im Beruf, Liebe, Freundschaft, Talente. Neidisch werden wir nur in Dingen, die uns wichtig sind. Und genau an dem Punkt wird deutlich, dass Neid nicht per se negativ ist. Entscheidend ist, wie wir damit umgehen. Der «brave Sohn» war mutig und hat dem Vater seine Gefühle offenbart. Wie gut, dass er das gemacht hat. So sind sie ins Gespräch gekommen. Der Sohn musste von seinem Neid nicht aufgefressen werden, sondern konnte erleben, dass er mit seinem Neid bei seinem Vater willkommen war. Und genau in dem Moment hat er die Liebe seines Vaters bereits erlebt, auf die er zuvor neidisch war. Seinen Neid offen zuzugeben, war für ihn der erste und entscheidende Schritt, um seinem bis dahin unausgesprochenem Wunsch näher zu kommen.
Eine abgewogene Bewertung
Neid ist nur dann gefährlich und bösartig, wenn er zu Ohnmacht und Frustration führt, die im Stillen wüten. Neid kann aber auch in eine positive Energie umgewandelt werden und uns helfen, mutig neue Wege einzuschlagen. Deshalb ist es wichtig, auch dem Neid Raum zu geben und mit ihm ins Gespräch zu kommen. Wie können wir erreichen, was uns wichtig ist? Möchte ich wirklich in Gänze mit meinem Nachbarn tauschen? Nicht nur so einen schönen Garten wie er haben, sondern auch so viel Arbeit investieren? Es geht nicht darum, alles zu haben, was andere haben, aber herauszufinden, was es ist, was mir wirklich wichtig ist. Und das darf sein.
Das Gleichnis zeigt uns, dass wir damit bei Gott willkommen sind und mit ihm darüber ins Gespräch kommen können. Gott lehnt nicht den Neid an sich ab, sondern warnt vor seinen möglichen (!) Folgen. Kommen wir mit Gott über unsere versteckten Wünsche ins Gespräch, kann er uns helfen, den anderen ihr Glück zu gönnen, bei uns zu bleiben und gut für uns zu sorgen.
Ähnliche Impulse gibt es im Magazin Faszination Bibel. Infos zum günstigen Jahresabogutschein des Magazins findest du hier.
Zur Miniserie Gefühle in der Bibel:
Wut
Angst
Zum Thema:
Den Glauben entdecken
Das dämpft die Lebensfreude: Wohin mit dem Neid?
Neid und Machtspiele: Wer hat das Sagen?
Datum: 23.03.2025
Autor:
Claudia Schubert
Quelle:
Magazin Faszination Bibel 01/2025, SCM Bundes-Verlag